"Am meisten habe ich mich selbst belogen" Essstörungen: Wenn Kartoffeln, Bananen und Co. zu „bösen“ Lebensmitteln werden

Fastenzeit 2018. Die 40 Tage Vorbereitungszeit auf das Osterfest werden auch in diesem Jahr viele Menschen nutzen, um ungesunde Gewohnheiten abzulegen – also keine Zigaretten mehr, keinen Alkohol oder weniger und gesünderes Essen. Was aber, wenn das Weniger-Essen zu einer Essstörung wird? Luci* ist eine junge Frau, die sowohl an Magersucht als auch an Bulimie erkrankt ist. Sie ist noch nicht wieder gesund, aber mutig und entschlossen, mit ihrer Geschichte aufzuklären und zu helfen:
schwarz-weiß Frauenrücken mit sichtbarer Wirbelsäule, sehr dünn
Zu dünn oder schon krank? Bei Essstörungen gerät auch das Selbstbild ins Ungleichgewicht.

Böse Lebensmittel

Luci hat gerade Abi gemacht. Es ist Sommer 2013 und ein freies Jahr liegt vor ihr, ein Jahr, in dem sie sich etwas gönnen kann, weil sie gute Leistungen gebracht hat und jetzt entspannt schauen will, wohin die Reise geht. Also erst einmal ab in den Urlaub. Sonne, Strand, Meer, essen nach Lust und Laune. Dann kommt sie nach Hause. Sie wiegt sich. 60 Kilo bei einer Körpergröße von 1,67 Meter. Das ist für sie zu viel. Viel zu viel. Luci bekommt einen Heulkrampf und beschließt: Ich nehme jetzt ab. Luci hat eine starke Persönlichkeit. Sie ist fokussiert und diszipliniert, deshalb gelingt es ihr schnell, nur noch zwei Mahlzeiten am Tag zu essen. Und die Erfolge zeigen sich – die Kleidung sitzt besser, die Bikinifigur macht einen guten Eindruck. Doch an Weihnachten hat sie noch immer das Gefühl, zu schwer zu sein. Luci strengt sich noch mehr an. Nur noch ein Salat am Tag. Möglichst spät aufstehen, möglichst früh ins Bett, möglichst viel Sport. Und die Kilos purzeln weiter. Sie bekommt Komplimente, das spornt sie an. Und trotzdem ist da eine Traurigkeit in ihr, eine Verzweiflung, die sie gar nicht richtig benennen kann. Weil sie immer wieder an Heulattacken leidet, sucht sich Luci Hilfe. Sie vertraut sich einer Therapeutin an. Doch die scheint Lucis Leid nicht zu sehen, nimmt die Krankheit nicht wahr. Spricht Luci eine starke Persönlichkeit zu und lässt sie gehen. Luci glaubt ihr. Und macht weiter. „Ich wurde ein Meister des Lügens“, erinnert sich Luci. „Und am meisten habe ich mich selbst belogen.“

Sie beginnt ein duales Studium, trennt sich von ihrem Freund und arbeitet hart. Sie pusht sich zu guten Leistungen, setzt sich unter Druck – aber ihre Anstrengungen und sie selbst sind ihr nie genug. Ihr Zuhause, ihre Familie sieht, wie Luci sich verändert. Sie versuchen zu helfen. Doch Luci treibt ihre Diät voran. Bis sie einen Magendarmpilz bekommt und ein Arzt ihr zu einer Low-Carb-Diät rät – also, keine Kohlehydrate. Luci isst daraufhin zwar wieder regelmäßiger, aber als der Pilz zurückkommt, hat Luci keine Zeit, zum Arzt zu gehen. Sie fährt in den Urlaub und beginnt die Diät auf eigene Faust von Neuem – nur noch viel radikaler. Sie hungert sich auf 44 Kilo herunter. Es ist nicht mehr zu übersehen, Luci ist krank. Ihre Familie spricht sie immer wieder an, manche reden hinter ihrem Rücken, sie fühlt sich missverstanden. Aber der Pilz bleibt ein Stellvertretergrund weiterzumachen. In dieser Zeit rutscht Luci auch tiefer in ihre Depression. Sie fühlt sich allein gelassen, zieht sich zurück, lehnt es ab, zu akzeptieren, dass sie krank ist. Und alles dreht sich nur ums Essen. Alles wird genau gewogen, dokumentiert, rationiert. Viele Lebensmittel sind nur noch böse – nicht nur Zucker, sogar schon eine Kartoffel. Wenn ihre Jeans beim Anziehen nicht schnell genug über die Beine rutschen, bekommt sie Panik. Irgendwann sagt Luci: „Mama, ich will wieder zunehmen“. Aber nicht etwa, weil sie krank ist, sondern einfach nur zu dünn.

Endlich eine Diagnose

Es geht eine kleine, kontrollierte Weile gut. Bis Luci im Sommer 2017 von ihrer Anorexie auch in die Bulimie abgleitet. Der kleine Erfolg, endlich wieder eine Scheibe Weißbrot mit Marmelade zu essen, wird von der Angst überrannt, wieder „fett“ zu werden. Also, übergibt sie sich. „Und man wird gut darin, sich zu übergeben“, sagt Luci. Wenn sie in einer ihrer Fressattacken Weißbrot mit Honig isst oder sogar mit Salami, jubiliert ihr Körper. „Es war der Himmel auf Erden!“ Und der ausgezehrte Körper verlangt natürlich nach mehr. Doch Luci erbricht sich. Nur, um sich gleich danach wieder vollzustopfen – und zu erbrechen. Sie schmuggelt schließlich auch Süßigkeiten nach Hause, packt sie aus, nimmt sie in den Mund, kaut sie – und spuckt sie wieder aus, eins nach dem anderen, immer wieder. Luci spürt, dass das nicht gut ist, sie bittet die Familie, sie zu kontrollieren aber versteckt die Süßigkeiten nur noch perfider. Sie sagt Treffen mit Freunden ab, kapselt sich weiter ab und kaut heimlich Süßigkeiten. Mindestens einmal in der Woche ist Luci bei Ärzten. Ihr ist ständig kalt, ihr Verdauungssystem ist komplett gestört, sie hat Bauchschmerzen, vom Erbrechen ist auch der Hals stark entzündet, außerdem schlafen ihr immer wieder Körperteile ein. Doch kein Arzt fragt nach dem Warum? Bis Luci eine neue Therapeutin findet. Eine, die sie nicht verhätschelt, nicht verharmlost, sondern eine, die endlich eine Diagnose stellt: Essstörung.

Der Traum vom Kaiserschmarrn

Mit ihrer Hilfe und regelmäßigen Sitzungen in der Gruppentherapie der Caritas Fachambulanz für Essstörungen in München lernt Luci, ihre Krankheit zu verstehen und zu akzeptieren. Über die Gespräche mit anderen Betroffenen findet sie zu einem neuen Gleichgewicht. Sie traut sich langsam wieder mehr zu essen und gewinnt an Selbstvertrauen. Dabei hilft auch weiterhin die Einzeltherapie. Hier geht Luci auf Spurensuche, findet Kraft, endlich Dinge aus ihrer Vergangenheit anzuschauen, die sie lange nicht anschauen und verarbeiten wollte. Immer an ihrer Seite, uneingeschränkt, ist Lucis Familie. Sie weiß: „Gott hat mir meine Familie geschenkt. Ich war ein Monster, aber sie haben mich ausgehalten und hatten Geduld.“ Als sie das Gefühl hatte, von allen Menschen verlassen zu werden, war ihre Familie da. Auch ein paar wenige Freunde, denen sie sich schließlich anvertraut, die verständnisvoll reagieren, nachfragen, sie ermutigen. Luci merkt, dass das Mitteilen ihr hilft. Vor allem zu ihrer Cousine, die ebenfalls an einer Essstörung litt, baut Luci ein enges Vertrauensverhältnis auf.

„Hilfe zu suchen, nichts mehr zu verheimlichen, mich nicht mehr selbst zu belügen und über meinen Schatten zu springen, das hat mir geholfen“, sagt Luci. Und motiviert damit auch andere Betroffene. „Es ist keine Schande zuzugeben, dass man krank ist. Ihr müsst euch nicht schämen! Habt Geduld!“ Geduldig zu sein, empfiehlt sie auch Angehörigen und Freunden. Luci weiß genau, dass sie in den schlimmen Phasen der Krankheit nicht sie selbst war. „Da hilft nur Akzeptanz. Und dass man versteht, dass die Heilung eben ein Prozess ist.“ Bei diesem Prozess können auch Angehörige sich Hilfe suchen, so wie Lucis Mutter. Selbst Unterstützung zu erfahren, gab ihr die Kraft, hartnäckig an Luci dranzubleiben, immer wieder nachzuhaken, wie es ihr geht und Hilfe anzubieten. „Aber das Beste, das sie mir geben konnte, waren ihre Liebe und Geduld.“

Geduld mit sich und dem Gesundwerden lernt Luci gerade, auch wenn sie die Waage heute noch meidet. Sie könnte der Einstieg zurück in den Teufelskreis sein und das will sie verhindern. „Ich habe heute mein Normalgewicht wieder, fühle mich trotzdem fett und hässlich. Aber ich versuche, es auszuhalten“, sagt Luci. Sich selbst zu akzeptieren, das ist das Ziel. Und Luci ist zuversichtlich: „Ich bin gesund, wenn ich wieder Kaiserschmarrn essen kann. Das ist noch nicht passiert, aber ich freue mich darauf!“
 
*Name von der Redaktion geändert
Text: Anja Dittmar

Caritas Fachambulanz für Essstörungen München
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faessstoerungen(at)caritasmuenchen.org
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