Dem Glauben Zukunft geben – Ein Prozess der Geistlichen Neuorientierung in unserer Erzdiözese Basisthemen und Übungen

Von Pastoralreferent Günther Lohr, Leiter des Fachbereichs „Exerzitien, Gemeindemission und religiöse Begleitung Ehrenamtlicher“


1. Was meint Geistliche Neuorientierung (GNO) – Versuche einer Annäherung

-sich ganz neu und frisch dem Geist Gottes öffnen der in uns wohnt (Röm 8,15 f; 1 Kor 3,16)

-sich „vom Geist entflammen lassen“ (Röm 12,11), d.h. auch von seiner Vision des Menschen: Christus gleichgestaltet werden und der Kirche: „Salz der Erde; Licht der Welt“

-sich vom Geist verlebendigen lassen (Joh 6,63)

-„Geist und Sinn erneuern“ (Eph 4,23) lassen.

-in allem, alles vom Geist formen, prägen, wandeln lassen.

-sich so in Gott verwurzeln, Halt nehmen in ihm, dass seine Kraft, sein Geist, unsere inneren Haltungen, unser äußeres Verhalten und die Verhältnisse, in denen wir leben prägen kann.

-sich von der „Kraft des Höchsten überschatten“ und in unfassbarer Weise mit Leben beschenken lassen (vgl. Lk 1,35).

-sich bezüglich Lebensstil, Lebensmitte, Lebensmittel und Lebensziel wieder ganzneu und konkret an Jesus Christus und seinem Leben orientieren.

-Wer GNO will, sollte sich einige Fragen stellen:
Was ist die Mitte meines Lebens? Was eint das Viele und Vielerlei meines Lebens? Um was dreht es sich denn hauptsächlich in all meinem Sein und Tun? Woran halte ich mich? Womit ernähre ich mich? Welche Motive bestimmen mich? Wie wichtig ist mir GNO? Wie viel will ich dafür an Zeit, Raum, Engagement, Geld investieren? Bin ich bereit, der GNO erste Priorität zu geben
und was werde ich dafür weglassen oder zurückstellen?


2. Einige Basisimpulse für eine Geistliche Neu-Orientierung (GNO)

a) GNO braucht Übung
Wer ein Handwerk ausübt, oder ein Instrument spielt, wer gutes Essen kochen kann oder Auto fährt – sie alle wissen es: „Vom Kennen zum Können führt nur eines: das Üben (O.F. Bollnow).
Unser ganzes Leben besteht aus üben: Gehen, Sprechen, berufliche Fertigkeiten, Rad fahren, Kochen, die schönen Künste – alles braucht Übung. Leben heißt üben – erst recht gut und erfüllt leben, vom Geist bewegt leben.
Üben aber meint: Über längere Zeit bei einem Punkt bleiben, wiederholen, sich unabhängig machen von Lust und Unlust, diszipliniert sein, lebendig interessiert und konzentriert sein, Geduld haben, experimentieren, ausprobieren wie es immer besser gehen könnte, den ganzen Tag als Übungsfeld nehmen, nicht alles auf einmal, in kleinen Schritten vorgehen…
GNO kommt also nicht (nur) durch Vorträge und Predigten zustande, sondern durch das Eröffnen von Übungsimpulsen, Übungszeiten, Übungsräumen, Übungsgemeinschaften.

b) Alles beginnt mit der Sehnsucht
„Einen Hund kann man nicht zum Jagen tragen“ und niemanden kann man zu einem großen Werk wie der GNO überreden. Er wird es nur angehen und v.a. durchhalten, wenn er selbst eine starke Sehnsucht danach verspürt.
Keine Sehnsucht aber brennt stärker in uns als die nach einem guten und erfüllten Leben. „Näphäsch“, der hebräische Ausdruck für Seele besagt sinngemäß, dass wir durch und durch bis in den letzten Winkel unseres Lebens Bedürftige sind, maßlos hungrig und durstig nach Leben in seiner ganzen Vielfalt und Fülle, d.h. aber: wir sind maßlos hungrig nach Gott. Nun geschieht es im Leben aber leicht, dass diese maßlose Grundsehnsucht verschüttet wird – begraben unter tausend kleinen und mäßigen Befriedigungen, unter Enttäuschungen, Müdigkeit, Routine, Hetze, Gier, Alltagstrott u.v.m.
GNO beginnt damit, dass wir wieder in Berührung kommen mit dieser Sehnsucht,sie freilegen, den Schutt wegräumen. Es braucht Mut dazu, sie immer wieder in ihrer ganzen Wucht zu spüren und sich auf sie einzulassen. Aber es lohnt, denn sie führt uns wieder zu unserer Lebendigkeit und sie ist Spur zu Gott, zur Fülle des Lebens.

c) Achtsam wahrnehmen/ ein achtsames Herz gewinnen
„Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“ so sagt Ignatius von Loyola. Der Schatz des erfüllten Lebens ist im Acker des Alltags verborgen. Die Grundhaltung um dies zu erfahren heißt „achtsame Wahrnehmung“.
Wahrnehmen – das ist ein schönes Wort. Den Anderen, mich selbst, alle Wirklichkeit so nehmen, wie sie ist, in ihrer Wahrheit.
Nicht so wie ich sie gerne hätte. Wahrnehmen bedeutet, sich leer machen von sich selbst, ich-bezogene Interessen, Etiketten und Vorurteile loszulassen. Die Wirklichkeit nicht auf meinen Blickwinkel reduzieren. Offensein für das, was sich zeigen will; nicht suchen, sondern sich finden lassen.
Simone Weil meint, dass diese Art der wachsamen Wahrnehmung der „Kern des Gebets“ ist, „der Kern der Liebe zu Gott und auch der Kern der Liebe zum Nächsten“.

d) Die Stille/das Schweigen einüben
Alle religiösen Traditionen schätzen das SCHWEIGEN als den Raum der Gotteserfahrung. „Nur im Schweigen“, so schreibt Romano Guardini „gelangt der Mensch vor Gott.“ Freilich meint dieses Schweigen mehr als nichts reden. Im Schweigen wird unser Ich still. Es meint eine absichtslose, vertrauende und
lauschende Offenheit unseres Herzens auf Gott hin.
Schweigen heißt Platz machen – im Terminkalender, im Kopf, in den Gedanken, in den Gefühlen, in jeder Lebensfaser. Leer werden und empfangsbereit sein, Augenblick für Augenblick, für die Überraschung, für das Ungeahnte, die jede Vorstellung übersteigende Fülle, für den Geist, der lebendig macht.

e) Dankbarkeit kultivieren
Zu den angenehmsten Zeitgenossen gehören ohne Zweifel die dankbaren Menschen. Dankbare Menschen sind immer glückliche Menschen. Dankbarkeit aber wird möglich, wo wir beschenkbar sind. Wer dankbar ist anerkennt, dass unser Leben so gebaut ist: Alles was uns leben lässt kann nicht erzwungen, nicht durch bloße Leistung hergestellt, nicht gekauft und nicht geraubt werden. Es ist Geschenk. Wir verdanken uns - dem und den anderen. Es ist ein Grundzug unseres Lebens, dass wir bedürftig sind, angewiesen darauf, beschenkt zu werden.
Geschenkt aber wird uns Tag für Tag Unzähliges. Wir müssen nur mit offenem und achtsamem Herzen durchs Leben gehen. Dann nimmt das Staunen kein Ende. Und Freude und Dankbarkeit werden uns erfüllen. Dankbarkeit ist die Antwort des Herzens an Gott, der uns mit dem Leben beschenkt.
Übungsimpulse zum Thema
a) Sehnsucht
-Ich bin aufmerksam auf all meine Wünsche und Bedürfnisse während eines Tages: die offenkundigen und die z.B. hinter Enttäuschungen, Hetze oder Müdigkeit, verborgenen. Ich versuche sie deutlich zu spüren.
-Ich kultiviere meine Sehnsucht indem ich nicht jedes Bedürfnis sofort stille.
Vielmehr versuche ich zu entdecken, wie mich die Kraft auf dem Grund dieser Wünsche und Bedürfnisse (= die Grundsehnsucht) stärker auf Gott ausrichten könnte.
-„Ein Land schön und weit, ein Land wo Milch und Honig fließen“(Ex 3,8)
Das verheißt Gott seinem Volk. Ich mache mir immer wieder Notizen, wie dieses Land, dieses Leben für mich konkret aussehen könnte. Was ist mein Traum von einem erfüllten Leben?
-ich frage mich immer wieder: was suche ich, wonach sehne ich mich, wonach halte ich Ausschau? Ich lasse mich von allem Lebenshunger auf Gott hin ausrichten.

b) Achtsam Wahrnehmen
-Ich übe die Wahrnehmung meiner Sinne: hören, schmecken, riechen …
Ich versuche dies so zu tun, als wäre es das erste Mal, so frisch wie ein Kind. Ich lasse dabei alles Denken, Wissen und Beurteilen beiseite.
Ich kann z.B. die Augen schließen und ausgiebig ein Stück Brot riechen, fühlen, schmecken … oder aus dem Fenster schauen und nur „schauen“ sein – ohne Absicht, in weiter Offenheit.

-Halten Sie im Lauf des Tages mehrmals in dem inne, was Sie gerade tun und machen Sie die folgende Übung: Ich nehme aufmerksam wahr, wie ich jetzt da bin.
Ich achte auf meine Verfassung, meine Haltung, auf Verspannungen die ich spüre…
Ich nehme meinen Atem wahr… so wie er jetzt ist, dort wo ich ihn jetzt spüre.
Ebenso kann ich die Gefühle und Gedanken wahrnehmen, die jetzt da sind…
Ich versuche nicht zu beurteilen, sondern einfach nur wahrzunehmen. Ich beende die Übung, indem ich mich bewusst auf das einstelle, was jetzt im Lauf des Tages als nächstes für mich zu tun ist.

-Gebet der liebevollen Aufmerksamkeit (Am Abend – oder auch zwischendurch)
-Machen Sie für 5 – 15 Minuten bewusst Halt.
-Setzen oder stellen Sie sich gesammelt hin und spüren Sie den Boden der Sie trägt.
-Sagen Sie sich bewusst: Ich bin jetzt da, um den (bisherigen) Tag anzuschauen, auf mein Herz zu lauschen und mich Gott anzuvertrauen…
-Bitten Sie Gott um seine Hilfe.
-Schauen Sie auf Ihren Tag: Was ist geschehen? Was ist gelungen?
Was war schön? Was hat gut getan? Wo bin ich angestoßen? Was tut weh?
Wo habe ich verletzt?...? Was habe ich bekommen, was gegeben?
-Lauschen Sie auf Ihr Herz. Was sagt es? Worum bittet es? Was beklagt es?
Worüber freut es sich ? Wofür dankt es?
-Spüren Sie einen Impuls zu etwas, das Sie in nächster Zeit gern leben möchten, bei dem Sie lebendig sein können, das Ihnen Freude macht?
-Beschließen Sie das Gebet indem Sie den Tag, sich selbst und alle Ereignisse und Menschen in die Hand Gottes legen.

c) Stille/Schweigen
-Üben Sie, äußere Unruhe und äußeren Lärm zu reduzieren, indem Sie z.B. weniger Zeitung und Zeitschriften lesen; Radio und Fernseher seltener einschalten; den Werbe- und Konsumlärm meiden; stille Orte und Zeiten pflegen - eine Kirche aufsuchen, in die Natur gehen, einen Spaziergang frühmorgens oder am Abend machen.

-Auch so können sie ins Schweigen finden, indem Sie „eine Wache vor den Mund stellen“(Ps 141) und Ihr Reden in Zucht nehmen:
•Geschwätzigkeit, leeres Gerede, Effekthascherei meiden
•Neuigkeiten nicht gleich weiterratschen
•niemanden verurteilen
•unfruchtbare Neugier sein lassen
•einer Kritik nicht sofort widersprechen
•anderen ein wirklich gutes Wort schenken, …

-Pflegen Sie in dieser Woche „Schweigeinseln“ mitten im Alltag, z.B. mehrmals am Tag jeweils 3 – 5 Minuten eine der folgenden Übungen:

1. Übung: „Musik hören“:
Hören Sie sich ein vertrautes Musikstück an. Versuchen Sie, ganz bei der Musik zu sein und ihr zu lauschen, als wäre es das erste Mal.

2. Übung: „musizieren“:
Wenn Sie ein Instrument spielen, könnten Sie ein Musikstück auswählen, das Ihnen vertraut ist. Spielen Sie diese Stück dann ganz absichtslos und selbstvergessen. Und seien Sie ganz Musizierende(r).

3. Übung: Geräusche hören
Wo Sie gerade sind – schließen Sie die Augen und hören Sie –möglichst ohne die Geräusche zu benennen oder zu bewerten – was zu hören ist.

4. Übung: schauen
Setzen Sie sich vor eine brennende Kerze oder eine Blume. Schauen Sie – ohne zu denken, ohne zu träumen – ohne etwas zu suchen – nur weit und offen schauen.

5. Übung: den Atem wahrnehmen
Im Sitzen, Stehen oder Gehen, was Sie gerade tun, achtsam auf Ihren Atem lauschen. Nicht den Atem denken, sonder spüren, empfinden – die Körperbewegung, die Temperatur des Einatmens, des Ausatmens, die Berührung der Naseninnenhaut, …
d) Dankbarkeit
-Legen Sie sich ein „Danktagebuch“ (vielleicht eine Spalte in Ihrem Terminkalender) an und schreiben Sie am Abend eines jeden Tages eine Sache auf, für die zu danken Ihnen bisher noch nie in den Sinn gekommen ist.

-Es gibt eine ganze Reihe Dankbarkeitskiller:
•Leistungsdenken mit dem damit verbundenen Stolz und Hochmut
•das Bewusstsein, alles sei selbstverständlich
•ein Anspruchsdenken, das meint, auf alles ein Recht zu haben
•eine Lebensgrundhaltung, bei der jammern, klagen, murren zur Gewohnheit geworden ist.
•Leben nur noch reinzustopfen, ohne zu verdauen
•Gleichgültigkeit
Seien Sie aufmerksam (wahrnehmen ohne sich zu verurteilen) auf Ihre Dankbarkeitskiller und versuchen Sie sie zu lassen.

-Anderen danken und sie loben kann recht wenig Raum in unserem Leben haben.
Wir leben nach dem Motto: Wenn ich nichts sage, ist es schon in Ordnung.
Versuchen Sie in dieser Woche ganz bewusst „Dank“ zu sagen, zu zeigen: Mit Worten, einem Lächeln, einer Geste, einer Aufmerksamkeit, einem Geschenk…

-„Er nahm das Brot und sagte Dank“. Das kann auch heißen: Er nimmt sein ganzes Leben in die Hand und dankt Gott dafür.
Schauen Sie täglich ein paar Minuten auf Ihr bisheriges Leben.
Erinnern Sie sich möglichst lebendig an Ereignisse, Situationen, Begegnungen, die Sie staunen ließen, Ihr Herz erfreuten, wofür Sie dankbar waren und sind.

-„Frühstücksmeditation“
Erinnern sie sich so konkret wie möglich an Ihr letztes Frühstück oder Ihre letzte Mahlzeit.
-Worin hat es/sie bestanden?
-Wo und unter welchen Umständen haben sie es zu sich genommen?

-Erinnern Sie sich möglichst an jede Einzelheit genau und lebendig, mit allen Sinnen )Tischdecke…, Tasse…, Tee…, Kaffee…, Semmeln/Brot…)
-Vergegenwärtigen Sie sich dann möglichst viele Menschen und Umstände, die dazu beigetragen haben, dass Sie Ihr Frühstück/Ihre Mahlzeit zu sich nehmen konnten.(z.B. die Arbeiter in der Kaffeeplantage; die Teepflückerin in Assam; die Schiffmannschaft, die den Tee/Kaffee nach Deutschland gebracht hat; der Schreiner, der Ihren Tisch anfertigte; Die Töpfer, die Ihr Geschirr geformt haben; der Bauer, der das Getreide säte; der Bäcker…)
-Bemühen Sie sich dann, jedem gegenüber , der in Ihr Bewusstsein trat, ein Gefühl der Dankbarkeit, zumindest aber freundliche Empfindungen und Gedanken entgegenzubringen, weil er durch seinen Beitrag ermöglicht hat, dass Sie essen und trinken konnten, obwohl Sie ihn oder sie vermutlich gar nicht
kennen.
(nach A. u. W. Huth)


Ideen zur Umsetzung der Anregungen
1. Lassen Sie sich und den Menschen in Ihrer Gemeinde Zeit für den Prozess GNO, das jeweilige Basisthema und seine Einübung.

2. Bereiten Sie sich selbst auf die GNO und die Basisthemen vor durch Studium, Gespräche, Übung, indem Sie diesem Anliegen selbst Raum, Zeit, Priorität und Engagement geben.

3. Der Vorbereitung und Einstimmung der Gemeinde könnten jeweils dienen:
Predigten, Vorträge, Gesprächsabende, Besinnungstage, Buß- und Meditationsgottesdienste.

4. Für die vier Basisthemen bieten sich die Vorbereitungszeiten Advent, Fastenzeit und Pfingsnovene besonders an.

5. Versuchen Sie immer Hinführung (Predigt, Vortrag), Besinnung, Einübung und Gespräch zu kombinieren.

6. Zur Einübung könnten Sie z.B. Übungsvorschläge nach einer Sonntagspredigt austeilen und nach 2 – 3 Wochen zu einem Gespräch am Sonntag zu den Übungserfahrungen einladen.