Katholische Pfarrgemeinde St. Nikolaus in Übersee am Chiemsee

Um Weisheit bitten

Es gibt gescheite Leute. Sie wissen viel und haben meist ein phantastisches Gedächtnis. Alles Mögliche kann man sie fragen. Sie sind wie ein Lexikon aus Fleisch und Blut.

Viele davon haben sich auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert. Spezialisten aber sind noch keine Weisen.
Das lateinische Wort für Weisheit ist „sapientia“. Es bedeutet weder ein enormes Wissen noch eine Summe von Geistesblitzen. Es geht vielmehr um das Gespür für das, was wirklich wichtig ist, was letztlich zählt. Der Weise hat einen Blick für das Hintergründige.

Er sieht durch das Oberflächliche hindurch in die Tiefe, auch bei einem Menschen. Seine Stärke liegt im Fingerspitzengefühl. 
Was erwarten wir von Gott? Es gibt sicher viele, die sich sehr wohl etwas von Gott erwarten. Sind das nicht eher handfeste Dinge wie Gesundheit, langes Leben, Wohlstand? Gott steht da für Erwartungen, die man an das eigene Leben hat.

Die Bedeutung Gottes hängt von der Fülle dieser Erwartungen ab. Solche Menschen können bitter werden, wenn alles anders läuft als geplant. „Jetzt habe ich so viel gebetet, und doch ist mein Mann an Krebs gestorben“, sagt eine Frau vorwurfsvoll. Und eine Abiturientin drückt sich so aus: „Ich gehe sonst nicht zur Kirche und bete kaum. Aber vor dem Abitur bin ich zur Messe gegangen. Und ich habe es gut geschafft. Geschadet hat es nicht“. Ist das alles, was wir von Gott erbitten?

Im Alten Testament wird uns vom jungen König Salomo erzählt, der Gott eine andere Bitte vorträgt. Er bittet darum, dass er auf Gott hören kann, um sein Volk entsprechend zu regieren und um fähig zu sein, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Würde uns diese Weisheit nicht auch guttun? Mehr als die berechtigten Wünsche nach Gesundheit, Sicherheit und Besitz? Mehr als das Fachwissen von Spezialisten, die auf ihrem Gebiet Experten sind, aber das Ganze aus dem Blick verloren haben? 

Weisheit hat viel mit der Gabe der Unterscheidung zu tun. Das ist die Fähigkeit zu erkennen, worauf es wirklich ankommt, was wahrlich zählt, worauf im Leben letztlich Verlass ist. Die gegenwärtige Situation drängt uns diese Fragen geradezu auf, zwingt uns, sich ihnen zu stellen. Diesen Fragen nicht ausweichen, sondern sich diesen Themen stellen, darauf hören, was Gott uns durch diese Krise sagen will, die Nöte der Zeit im Gebet vor Gott hintragen, um ein hörendes Herz bitten, all das könnte uns helfen zu erkennen, was das Leben momentan von uns verlangt.

Weise ist nicht der Mensch, der Wissen für sich behält, sondern sich für das einsetzt, was er als richtig erkannt hat. So wünsche ich uns allen in der schwierigen gegenwärtigen Situation nicht nur die richtigen Einsichten, sondern den Mut zum Handeln, wo wir gebraucht werden.

Ihr, Pfarrer Georg Lindl