Kardinal Marx besorgt über Tendenz, Religion einseitig zur Sicherung der eigenen Identität zu benutzen
München, 23. November 2016. Kardinal Reinhard Marx hat sich besorgt gezeigt über die Tendenz, Religion einseitig zur Sicherung der eigenen Identität zu benutzen. Bei einer Diskussionsveranstaltung des Hilfswerks missio in München am Montagabend, 22. November, sagte der Erzbischof von München und Freising: „Ich glaube, dass das generell eine Tendenz sein wird: Nicht, wieder frömmer zu werden, dem Evangelium näherzukommen, Jünger Jesu zu werden, sondern die Religion verkürzt als einen Traditionsbestand zur Sicherung der eigenen Identität zu sehen.“ Diese Tendenz sei in allen Religionen vorhanden. Zwar bestehe zwischen Religion und Identität eine Wechselwirkung, „aber für uns gilt zunächst das Evangelium: Das soll unsere Identität sein!“, so Kardinal Marx.
Gleichzeitig glaube er weiterhin, so sagte der Erzbischof mit Blick auf die Flüchtlingskrise, „dass eine Mehrheit der Bevölkerung möchte, dass Menschen in Not menschenwürdig behandelt werden und auch eine Zukunft haben“, auch wenn die konkreten Wege dorthin strittig seien. Wenn er erläutere, was für die Kirche wichtig sei, „dann erlebe ich immer noch eine große Zustimmung“. Fünf Punkte seien zentral: Wer als Flüchtling nach Europa komme, müsse menschenwürdig behandelt werden und ein faires Verfahren erhalten. Niemand dürfte in eine Situation von Krieg und Verfolgung geschickt werden. Alles müsse getan werden, damit Menschen nicht aus ihrer Heimat fliehen müssten und damit niemand mehr im Mittelmeer ertrinke. „Diese fünf Punkte als Ziele zu sehen, dann politisch und wirtschaftlich und in der Diskussion mit anderen Gruppen darüber nachzudenken, wie wir daran gehen können: Das halte ich für einen Prüfstein einer christlich geprägten Gesellschaft“, betonte Kardinal Marx: „Ich habe den Eindruck, dass viele in unserer Gesellschaft bereit sind, in eine solche Richtung mitzuarbeiten und mitzudenken – auch wenn sie vielleicht jetzt nicht so deutlich vernehmbar sind, weil der Gegenwind so stark scheint.“
Mit Blick auf die Arbeit von missio erinnerte der Erzbischof daran, dass ein „Blick auf die ganze Welt“ nötig sei, der zeige: „Die meisten Flüchtlinge der Welt sind nicht bei uns, sondern etwa in Kenia, im Libanon, in Jordanien – Millionen von Menschen, die in Lagern oder in Camps untergebracht sind unter schwierigsten Umständen.“ Die Arbeit des Hilfswerks sei ein „gutes Beispiel für die Vernünftigkeit des christlichen Menschenbildes“, ihre Grundlage sei, „Menschen zu befähigen, zu beteiligen, ihnen Mut zu machen, ihnen die Fähigkeiten zu eröffnen, auch selbst etwas zu tun“, so Kardinal Marx. Ziel sei immer, Menschen „nicht nur zu betreuen, nicht nur etwas zu geben, sondern die Betroffenen selbst einzubeziehen, und deshalb ist das auch erfolgreich“. Im Hinblick auf die Situation in Deutschland betonte der Erzbischof weiter: „Das wäre auch für uns wichtig: Wenn wir die Flüchtlinge bei aller Schwierigkeit der Integration zunächst als eine Möglichkeit sehen, als Menschen, die etwas einbringen wollen, die etwas Positives wollen.“
Die Veranstaltung von missio stand unter dem Titel „missio(n) in Kirche und Wirtschaft: Flucht und Vertreibung als Prüfstein christlichen Handelns“. Kardinal Marx diskutierte mit Gerhard Cromme, Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG, und Charles Sendegeya, Leiter eines missio-Projektes in Kenia. Das Hilfswerk wurde 1838 gegründet durch König Ludwig I. von Bayern und ist vor allem in Afrika, Asien und Ozeanien tätig. Allein im Jahr 2015 hat es 1046 Projekte in 60 Ländern unterstützt. Im Fokus stehen dabei der Auf- und Ausbau lokaler kirchlicher Strukturen sowie die Ausbildung kirchlicher Mitarbeiter. (gob)