Kritik ernst nehmen, keine Sonderwelten zulassen

Kardinal Marx spricht auf dem St. Michael-Jahresempfang in Berlin
Berlin, 10. Oktober 2018.  „Ein Glaube ohne kritische Vernunft wird keinen Bestand haben. Deshalb begrüßt die Kirche eine freie, offene und säkulare Gesellschaft, in der die Religionen ihre Überzeugung zum Ausdruck bringen können.“ Diese Auffassung hat am Mittwochabend, 10. Oktober, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, beim St. Michael-Jahresempfang in Berlin vertreten. Die Kirche lerne so auch aus der Gesellschaft, aus den Wissenschaften und aus der Öffentlichkeit. „Wir dürfen keine Sonderwelt sein, die sich abschottet. Wir müssen aber den Mut haben, Glaube und Vernunft auch kritisch auf das anzuwenden, was in der Kirche läuft“, so Kardinal Marx. Gleichzeitig warnte er vor der Fundamentalisierung von Religion und der Instrumentalisierung des Religiösen für politische Interessen. „Die plurale Gesellschaft kann nur säkular sein – aber mit der Religion. Religion spielt in dieser Gesellschaft eine Rolle, daran müssen wir uns messen lassen.“
 
Ausführlich ging Kardinal Marx auf die Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG) ein und forderte vor den mehreren Hundert Zuhörern eine kritische Wegbegleitung der Kirche. Die Untersuchung zeige, dass die Kirche Sonderwelten aufgebaut habe, insbesondere Machtstrukturen, die Verbrechen begünstigten. „Machtstrukturen gefährden alle Religionen, besonders aber uns. Deshalb wollen und müssen wir von der Gesellschaft lernen. Wichtig ist eine konstruktive und begleitende Kritik aus allen Bereichen. Wir wollen die Kritik auf- und ernst nehmen!“ Kritisch fragte Kardinal Marx, ob die Kirche verstanden habe, den Betroffenen zuzuhören und gefährdende Strukturen zu erkennen. „Die Studie fordert uns auf, systemische Zusammenhänge von Missbrauch wahrzunehmen. Das gilt von notwendigen kritischen Anfragen an die Priesterausbildung bis hin zu Fragen im Kirchenrecht.“
 
Kardinal Marx forderte die Gäste des Empfangs auf, die Kirche kritisch zu hinterfragen: „Lassen Sie nicht nach in Ihrem Fragen! Stoßen Sie uns an, damit wir in unserem dringend notwendigen Handeln nicht nachlassen! Nur weil das öffentliche Interesse vielleicht jetzt etwas geringer sei als vor zwei Wochen, dürfen wir nicht in alte Muster verfallen. Ich verstehe jeden, der sagt, wir wollen Taten sehen“, so Kardinal Marx. Es gehe nicht um die Rettung einer Institution, sondern um Gerechtigkeit für die Betroffenen.
 
Die Kirche, so Kardinal Marx weiter, müsse den Dialog mit der Welt suchen. Die Studie habe die Frage gestellt, ob die Kirche anschlussfähig und anschlusswillig an die moderne Gesellschaft sei: „Wollen wir lernen? Haben wir die Bereitschaft, auf einen Weg zu gehen, der uns bisher verschlossen erschien? Wir Bischöfe müssen den Moment ergreifen, um den Weg der Glaubwürdigkeit zu erreichen und das zu verändern, was notwendig ist.“
 
Bereits bei der Begrüßung zum St. Michael-Jahresempfang hatte auch der Leiter des Katholischen Büros, Prälat Dr. Karl Jüsten, auf die notwendigen Konsequenzen der Studie aufmerksam gemacht. Die ehrliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals sei eine dauerhafte Aufgabe. „Das Vertuschen der Taten und das Decken der Täter in der Vergangenheit ist für uns heute inakzeptabel.“ Deshalb sei ein Perspektivwechsel notwendig, von den Erwachsenen zu den Kindern, von den Tätern zu den Opfern, von der Institution zu den Betroffenen. „Diese Aufgabe duldet keinen Aufschub“, so Prälat Jüsten. (ps)

Ansprache von Kardinal Marx (Video)