Sich selbst zu töten, gilt in einer säkularen Gesellschaft weithin als „Menschenrecht“. Auch das Deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich diese Auffassung zu eigen gemacht, als es am 26. Februar 2020 in einem Urteil das „Recht auf selbst bestimmtes Sterben“ bestätigt hat, und zwar als Ableitung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes (Art. 2, Abs. 2) und der Unbedingtheit der Menschenwürde (Art. 1, Abs. 1 GG). Dieses Recht zur Selbsttötung schließe, so das Urteil, auch das Recht ein, fremde Hilfe zur Selbsttötung für sich zu beanspruchen. Wichtig sei lediglich, dass die Tötungshandlung vom Sterbewilligen selbst vorgenommen werde, nicht vom Helfer bzw. Arzt. Angebote von Sterbehilfevereinen, die eine solche Assistenz zur Selbsttötung beinhalten, seien zulässig, wenngleich der Staat das Thema regulieren könne; er dürfe damit jedoch nicht das Recht auf Selbsttötung unterlaufen.
Der Deutsche Bundestag konnte sich bislang (Stand Juli 2024) noch auf kein entsprechendes Gesetz einigen. Im Sommer 2023 scheiterten sowohl ein liberaler Gesetzentwurf von FDP und Grünen, als auch ein restriktiverer Vorschlag von SPD und CDU. Ein neuer Vorstoß zur gesetzlichen Regelung steht bislang aus.
Mit seinem Urteil im Frühjahr 2022 geht das Bundesverfassungsgericht über die liberale Praxis von Nachbarländern wie den Niederlanden, Belgien oder der Schweiz sogar noch hinaus. Dort ist der Suizidbeistand zwar seit längerem erlaubt, bleibt jedoch an materielle Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft, die im konkreten Fall nachzuweisen sind. Gemäß dem neuen Urteil des Verfassungsgerichts dagegen gründet die Legitimität der Beihilfe nicht in einer besonderen Situation, sondern im allgemeinen Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Damit besteht der Anspruch auf Unterstützung bei einer Selbsttötung prinzipiell für jeden, nicht nur in medizinischen Härtefällen: für den unglücklich verliebten Studenten genauso wie den konkursgefährdeten Geschäftsmann oder die betrogene Ehefrau.
Gesellschaftlicher Druck zum „altruistischen Suizid“
Hier im „Ruf des Königs“ wurde vor rund zehn Jahren das Thema des assistierten Suizids aufgegriffen, theologisch beleuchtet und auf gesellschaftliche Tendenzen hingewiesen, die mit seiner juristischen Freigabe zu befürchten sind. Denn schon viel früher — nämlich im Jahr 2001 — hatte der damalige Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede gewarnt: „Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet.“ In einer Gesellschaft, die die Beihilfe zur Selbsttötung von sterbewilligen Patienten allgemein akzeptiert, werden — so der Bundespräsident - ganz automatisch pflegebedürftige Menschen unter Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie trotz notwendiger Intensivbetreuung gern weiterleben würden. Zu erwarten ist eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der das „freiwillige“ Ausscheiden aus dem Leben als reale Option in Erwägung gezogen wird (und werden muss)
- denn schließlich will niemand seinen Angehörigen eine unnötige Bürde sein. Pflegebedürftige Patienten werden damit zur rechtfertigungspflichtigen Belastung ihres Umfelds; es sind die Patienten selbst, die ihren Anspruch auf Fortführung der Pflege zu begründen haben.
Selbst wenn die Angehörigen versichern, sie seien zur Pflege der erkrankten Person gern bereit — der psychische Druck für den Patienten bliebe bestehen. Denn man wäre sich doch sehr bewusst, dass man einer Entlastung seiner Angehörigen im Wege steht, dass man selbst die „Schuld“ am pflegerischen und finanziellen Aufwand trägt, der ganz einfach vermeidbar wäre, würde man „von sich aus“ um Beihilfe zur Selbsttötung bitten. Und so ist der „altruistische Suizid“ (Emile Dürkheim) nicht mehr fern, d.h. die Selbsttötung „als Antwort auf eine Erwartungshaltung der Gesellschaft“
- eine Erwartung, die sich durch die legale Freigabe des assistierten Suizids ganz natürlich entwickeln würde. So die Überlegung von Johannes Rau im Jahr 2001.
Aktuelle Zahlen und Forschungsergebnisse
Tatsächlich liegen inzwischen statische Zahlen vor, die zeigen, wie sich in den vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern die Quote der Entscheidungen für einen assistierten Suizid entwickelt haben. Alle Länder, die diesbezüglich eine gesetzliche Liberalisierung vorgenommen haben, verzeichnen einen signifikanten Anstieg der Fälle von Suizidbeihilfe. In der Schweiz wurde der assistierte Suizid 1999 legalisiert; seither haben sich die Zahlen alle fünf Jahre verdoppelt. Waren es im Zeitraum von 1999 bis 2003 582 Fälle, zählte man von 2014 bis 2018 bereits 4.820. In Belgien steigerte sich die Zahl von knapp 500 im ersten Jahr nach der gesetzlichen Freigabe (Stand 2002) auf jährlich 2.275 (Stand 2019). Der US-Bundesstaat Oregon begann 1998 mit 16 Fällen, 2023 lag die Zahl bei 367. In Kanada wurde die Beihilfe erst 2016 straffrei gestellt; damals wurden 1.018 Fälle gezählt; die Zahl steigt jährlich um ca. 30%; 2022 waren es 13.241 Fälle, für 2023 erwartet man rund 16.000. Lediglich in den Niederlanden stagnieren die Zahlen der Beihilfe. Grund dürfte sein, dass dort Ärzte seit 2002 eine direkte „Lebensbeendigung auf Verlangen“ legal durchführen, d.h. nicht nur assistieren, sondern aktiv vornehmen. Die entsprechenden Gesamtzahlen von Suizidbeihilfe und Euthanasie zusammen zeigen dabei wie überall nach oben: sie stiegen von 2.636 Fällen im Jahr 2009 auf 6.092 Fälle im Jahr 2019.
Wobei die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und Lebensbeendigung auf Verlangen tendenziell fließend ist. Im Ernstfall bleibt es kaum bei der bloßen Beihilfe. Schon 2014 hat Rudolf Henke (CDU) in einer Bundestagsdebatte darauf hingewiesen, dass Patienten, die eine Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen, gleichzeitig den Wunsch äußern, der Arzt möge — nach Bereitstellung des tödlichen Präparats - den Raum nicht verlassen. Er solle vielmehr den Vorgang überwachen und notfalls eingreifen, sollte es zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen. Mit anderen Worten: Bei Bedarf möge er die (dann aktive) Tötung sicherstellen. Nach Erfahrungswerten aus den Niederlanden treten in rund 20% der Fälle Komplikationen auf, so dass es nicht bei der reinen Suizidassistenz bleibt.
Eine weitere aktuelle Studie lässt aufhorchen. Oftmals wird Suizid als persönliche Privatangelegenheit einer Einzelperson dargestellt und verstanden. Doch gerade der Kreis der Angehörigen ist vom bewusst gewählten Exitus einer nahestehenden Person oft empfindlich betroffen. Nach einem gängigen Klischee hinterlässt jede Selbsttötung sechs zusätzliche Opfer — eine fiktive Zahl, die lediglich auf die Problematik aufmerksam machen soll. Doch nun gibt es zu diesem Thema eine eigene Studie. Anhand von Daten einer aktuellen Umfrage wurde die Größe der Gruppe von Menschen berechnet, die von einem einzelnen Suizid mitbetroffen sind. Das Ergebnis: Bei jeder Selbsttötung stehen im Hintergrund 135 Personen, die von negativen Auswirkungen dieser Entscheidung für sich berichten. Auch wenn es hier nur um eine statistische Zahl geht, die den Personenkreis in unterschiedlichen Graden betrifft, wird deutlich, wie wenig der überlegt gewählte Suizid eine rein private Sache ist.
Die christliche Perspektive
Dies gilt erst recht, wenn man die christliche Glaubensperspektive miteinbezieht. Das menschliche Leben ist keine „Sache“, die uns als absolutes Eigentum gehören würde. Das Leben ist vielmehr ein Geschenk, das uns anvertraut ist, nicht autonom, sondern als Leihgabe. Wir wurden nicht gefragt, ob wir „Eigentümer“ unseres Lebens werden wollen, und wir werden nicht gefragt, ob wir es am Ende zurückgeben wollen. Es wurde uns gegeben, es wird uns genommen, wir können es nicht „festhalten“ - keinen Tag, keine Stunde, nicht eine Sekunde. Im Blick darauf, wie „flüssig“ uns das Leben durch die Finger entrinnt (um uns für den nächsten Augenblick neu geschenkt zu werden — solange ER will), wird deutlich, wie wenig wir über unser Leben im Ganzen verfugen. Wir sind nicht eigenständiger Besitzer unseres Lebens, sondern seine Verwalter. Es ist als Auftrag über uns „verfügt“ - vom Schöpfer, einem liebenden Gott, unserem Himmlischen Vater, der nur das Beste für uns will. Fehlt diese Perspektive, wird schnell unverständlich, warum ein Mensch nicht über den passenden Augenblick seiner selbstgewählten Lebensbeendigung nachdenken und für diesen Schritt maximale Freiheit und Assistenz beanspruchen soll.
Freilich, auch aus der gläubigen Perspektive des Christen ist es in vielen Fällen nicht einfach, monatelange oder jahrelange Krankheitsverläufe oder Sterbeprozesse als Gabe eines himmlischen Vaters zu verstehen oder auch nur zu ertragen. Viele Lebensschicksale bleiben für uns rätselhaft, scheinen sinnlos, ja grausam. Einzig der gläubige Blick auf Jesus kann hier die Richtung einer Antwort andeuten: Jesus ging uns im (scheinbar) sinnlosen Leiden voraus, von seiner Festnahme über den Kreuzweg bis in den Tod als Verbrecher. Jesus hätte sich seinem (scheinbar) sinnlosen Leiden entziehen können, am Ölberg, vor Pilatus, ja selbst noch am Kreuz. Doch er blieb standhaft bis zum letzten Atemzug. Sein bedingungsloses „Ja“ zum Willen des Vaters verwandelte sein (scheinbar) sinnloses Leiden in eine Tat der Liebe, in einen Akt der Hingabe, in ein heilbringendes Opfer, in unsere Rettung, in die Erlösung der Welt. Damit hat uns Jesus nicht nur „theologisch“ von der Sünde befreit, sondern auch gezeigt, wie wir mit Leid und Tod umgehen können, wie wir (scheinbar) sinnloses Kreuz und Elend in heilbringendes Tun verwandeln können. Darum konnte der heilige Paulus schreiben: „Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Ich ergänze in meinem irdischen Leben, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt an seinem Leib, der die Kirche ist.“ (Kol 1,24) Und angesichts seiner erlittenen Verfolgungen jubelt er beinahe: „Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ (Röm 8,18)
Die christliche Antwort angesichts eines schwerst leidenden Menschen besteht darin, ihn spüren zu lassen, wie wertvoll sein Tun (!) auch in dieser Situation ist. Ja, nicht nur sein Dasein als Person ist und bleibt wertvoll, sondern auch sein Durchstehen des Leidens im Vertrauen auf Jesus ist kostbar in den Augen des Herrn (Kol 1,24). Das hat nichts mit perverser Leidesmystik zu tun, als wäre das Kreuz in sich positiv und liebenswert; wo immer möglich, müssen wir Leid lindern und heilen. Doch gleichzeitig ist die christliche Überzeugung ernst zu nehmen, dass unser ganzes Leben - vom ersten bis zum letzten Augenblick — ein Geschenk Gottes ist, gedacht als sinnvolle (Auf-) Gabe. Schon Hiob formulierte pointiert: „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ (Hiob 2,10)
Menschen zu begleiten und zu ermutigen, in ihrem Leiden wie Jesus dieses unbedingte „Ja“ zu ihrem Schöpfer zu sprechen — darin besteht christliche Begleitung eines Menschen in seinen letzten, oft schmerzlichsten Zeiten.
[1] In den Niederlanden zum Beispiel ist vorab nachzuweisen, dass der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist. Patient und Arzt müssen gemeinsam zum Schluss kommen, dass es keine andere annehmbare Lösung gibt. Zusätzlich muss ein anderer unabhängiger Arzt das Ergebnis bestätigen. Nur dann ist in den Niederlanden ein assistierter Suizid legal möglich.
[2] Für die referierten Zahlen siehe Manfred Sieker, „Sozialethische Einwände gegen eine Suizidbeihilfe“,
in: Communio 53 (2024) 451-463, hier: 460. Dort finden sich alle Zahlen mit Quellenangaben.
3 Vgl. Spieker, „Sozialethische Einwände“, 458.
4 Vgl. Spieker, „Sozialethische Einwände“, 457.