Kardinal Marx schreibt Brief an alle Gläubigen

Nach Vorlage des Missbrauchsberichts der Erzdiözese dankt der Erzbischof für „Treue im Glauben“
München, 20. Dezember 2010. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, hat sich aus Anlass der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Erzdiözese in einem Brief an alle Gläubigen gewandt. In dem Schreiben, das kurz vor Weihnachten an alle Pfarreien des Erzbistums versandt wurde, dankt er den Gläubigen „für Ihre Treue im Glauben, für Ihr Gebet, für Ihr Zeugnis für Christus und seine Kirche“. Kardinal Marx verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, dass „dieses für uns alle so schwere Jahr 2010 auch ein Jahr der Reinigung, der Klärung, der geistlichen Vertiefung und somit auch ein Wendepunkt für die Kirche in unserem Land“ werde. Es gehe darum, dass der Glaube wieder stärker „eine Quelle der Kraft für unser Leben“ sei, so der Kardinal weiter: „Denn danach sehnen wir uns doch: in all den täglichen Belastungen und Herausforderungen dem wirklich zu begegnen, der uns zuspricht: Du sollst leben! Ich stehe zu Dir! Für immer!“. (kel)

Im Folgenden der Brief im Wortlaut:

Liebe Schwestern und Brüder,

ein schweres und herausforderndes Jahr für die katholische Kirche in Deutschland geht zu Ende. Die Diskussion über die Missbrauchsfälle in den vergangenen Jahrzehnten hat uns alle erschüttert und bewegt. Ich hatte Ihnen ja im Frühjahr geschrieben und versprochen, dass wir offen und ehrlich dieses Thema anpacken werden, ohne Verharmlosung und ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen. Meine Mitarbeiter und ich haben das nach Kräften versucht, zuletzt noch mit der Entgegennahme des Berichts einer unabhängigen Rechtsanwaltskanzlei über die Situation im Erzbistum München und Freising seit 1945.

Es ging mir nicht darum, Schuldige zu suchen oder nur einseitig auf die Vergangenheit zu schauen, sondern darum, aus den Fehlern die gemacht wurden zu lernen und so einen überzeugenden und glaubwürdigen Neuanfang für die Zukunft zu gewährleisten. Denn das Ziel muss ja sein, dass die Kirche ein sicherer und guter Ort für Kinder und Jugendliche ist, weil sie dort Menschen begegnen, die ihnen Mut zusprechen, die ihnen helfen und vor allem, die ihnen den Zugang zu Jesus Christus eröffnen, dem großen Freund und Heiland unseres Lebens. Ich bin überzeugt, dass das gelingen kann, wenn wir in guter und offener Weise zusammenstehen und den Weg gemeinsam gehen. Sicher gehört auch dazu, Fehler und Schuld zu bekennen, auch wenn manche Dinge früher anders gesehen wurden. Ein Psalmwort drückt es im Gebet so aus: „Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist!“ (Ps 19, 13).

Letztlich traf es sich dann auch gut, dass unser Diözesanprojekt „Dem Glauben Zukunft geben“ weiter an der Arbeit war. Die erarbeiteten Perspektiven und konkreten Vorschläge werden von mir sehr ernst genommen und sie werden für die zukünftige Seelsorge in unserem Erzbistum von großer Bedeutung sein. Wir wollen uns wirklich neu auf den Weg machen, pastorale Schwerpunkte und Ziele klarer in den Blick nehmen, und die Kultur des Gesprächs, wie ich sie beim Zukunftsforum und auch beim Jugendforum erlebt habe, weiterpflegen.

Vor allem aber möchte ich kurz vor Weihnachten Ihnen allen für Ihre Treue im Glauben, für Ihr Gebet, für Ihr Zeugnis für Christus und seine Kirche herzlich danken. Auch den Priestern und kirchlichen Mitarbeitern habe ich in einem besonderen Brief diesen Dank zum Ausdruck gebracht, denn gerade am Ende dieses Jahres kann ich noch einmal unterstreichen, was ich Ihnen im Frühjahr geschrieben habe: Es darf und kann keinen Generalverdacht gegenüber Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Mitarbeitern geben. Die überwältigende Mehrheit tut mit den Kräften, die ihnen der Herr geschenkt hat, ihren Dienst.

In meinem ersten Brief, den ich Ihnen vor fast drei Jahren geschrieben habe, habe ich einen Satz des verstorbenen Pariser Kardinals Jean-Marie Lustiger zitiert: Das Christentum in Europa steckt noch in den Kinderschuhen, seine große Zeit liegt noch vor uns! Stehe ich weiterhin zu diesem Satz? Ja, unbedingt! Vielleicht können wir sogar nach einigen Jahren sagen, dass dieses für uns alle so schwere Jahr 2010 auch ein Jahr der Reinigung, der Klärung, der geistlichen Vertiefung gewesen ist und insofern auch ein „Wendepunkt“ für die Kirche in unserem Land, damit der Glaube wieder stärker eine Quelle der Kraft für unser Leben wird. Denn danach sehnen wir uns doch: in all den täglichen Belastungen und Herausforderungen dem wirklich zu begegnen, der uns zuspricht: Du sollst leben! Ich stehe zu dir! Für immer!

Damit wir diesen Weg der Erneuerung gehen können, ist es aber notwendig, dass wir nicht in „Schockstarre“ verharren oder Schuldige suchen, Verantwortlichkeiten abschieben oder alles verharmlosen. Wir müssen uns vielmehr gemeinsam vor den Herrn der Kirche stellen und auf sein Wort hören. Nur so finden wir zu einem erneuerten Miteinander und nur so wachsen in uns die Kräfte, den Weg in die Zukunft zu gehen. Nur so entdecken wir neu die faszinierende Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen, die greifbar wird in der Person Jesu Christi.

Mich haben in den letzten Wochen besonders die Worte aus dem Propheten Jesaja begleitet: „Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest! Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott!“ (Jesaja 35, 3-4) Und dieser Gott, der da ist und mit uns geht, hat einen konkreten Namen: Jesus von Nazareth, das Kind in der Krippe von Bethlehem, der gekreuzigte Erlöser. Wenn er ins Zentrum unserer Arbeit, in den Pfarreien, Institutionen, Gemeinschaften und Orden rückt, dann wird auch die Kirche in guter Weise „zurecht gerückt“ und wird immer wieder neu zu einer Gemeinschaft, die sich nicht selber sucht, sondern ihn verkündet und ihn mitten in der Welt bezeugt.

Ihnen und allen an Ihrer Seite, Ihren Familien, besonders den Kranken und Alten wünsche ich von Herzen eine gnadenreiche Weihnacht und ein von Gott gesegnetes Neues Jahr 2011.

München, im Advent 2010

Ihr

Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising