„Sichtbar machen, dass Kirche für die Kleinen und Schwachen da ist“

Vortrag von Kardinal Marx bei Kongress „Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung“ in Rom
Münchner Erzbischof mahnt geistliche Erneuerung der Kirche an
München/Rom, 9. Februar 2012. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals und die damit verbundene Krise der katholischen Kirche sind nach Einschätzung von Kardinal Reinhard Marx keineswegs zu Ende. „Es geht vielmehr darum, den geistlichen Lernprozess fortzusetzen und eine neue Aufmerksamkeit zu bekommen für den eigentlichen Auftrag der Kirche und für die vom Evangelium her vorgegebene Art und Weise ihres Zeugnisses“, sagte der Erzbischof von München und Freising am Donnerstag, 9. Februar, beim internationalen Kongress „Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung“ an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle habe „nach innen und außen zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt, der noch nicht überwunden ist“, so Marx. Diese Krise müsse aber als Chance für eine geistliche Erneuerung begriffen werden, so Marx in seinem Vortrag zum Thema „Kirche, Missbrauch und pastorale Führungsverantwortung“.

Aufgabe der Kirche sei es, Menschen aufzurichten, ihnen Mut zu machen und die eigentlichen Möglichkeiten des Menschseins zu entdecken und zu leben: „Es muss neu sichtbar werden, dass die Kirche für die Menschen da ist und besonders für die Kleinen, die Armen und die Schwachen.“ Gerade im Blick auf die Missbrauchsdebatte müsse daher ein Schwerpunkt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen liegen, verlangte der Kardinal: „Wichtig wäre eine grundsätzliche und umfassende Orientierung an Kindern und Jugendlichen, in der Bildung, in der Katechese und der Förderung der Familien.“ Wenn die Kirche gerade jetzt ihre Aufgabe neu annehme, Zeichen und Sakrament der Liebe Gottes zu sein und den Schutz und die Förderung des Lebens der Kinder in den Mittelpunkt ihres Interesses, ihres Handelns und Wirkens stelle, dann sei das auch ein entscheidender Beitrag für einen Neuaufbruch der Kirche. „Dann kann die Kirche dieser Jahre auch Ausgangspunkt zu Heilung und Erneuerung der Kirche für die Zukunft sein“, sagte der Erzbischof.

Die richtige Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und der Mut zur Wahrheit könnten zur Evangelisierung und Neu-Evangelisierung beitragen, die dem Heiligen Vater so sehr am Herzen lägen, zeigte sich Marx überzeugt: „Es kommt darauf an, ganz im Geiste Jesu die Wirklichkeit des Lebens der Kirche immer mehr dem anzugleichen, was uns vom Evangelium her aufgegeben ist.“ Die geschichtliche Stunde, in der ja immer auch ein Anruf Gottes zu spüren sei, zwinge die Kirche geradezu zu einer Haltung der Demut und der Konsequenz zugleich. „Das, was in der Kirche äußerlich sichtbar wird, muss dem inneren Leben entsprechen, Sein und Schein dürfen nicht auseinander fallen und die Kirche zu einem verfälschten Zeugnis verleiten“, mahnte der Kardinal. Neben allen Maßnahmen und strukturellen Veränderungen gehe es zutiefst um eine geistliche Erneuerung, wie sie auch Benedikt XVI. gefordert habe. „Im Mittelpunkt stehen nicht das Überleben der Kirche oder ihre äußere Bedeutung oder ihr politischer Einfluss, sondern ob sie ihren Auftrag erfüllt, den Menschen den Weg zu zeigen in die Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott“, forderte Marx.

Marx kritisierte, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Schutz der Institution im Vordergrund gestanden habe „und der Versuch unternommen wurde, einer schrecklichen Wahrheit auszuweichen und sie nicht in ihrer ganzen Bitterkeit zu sehen“. Dazu habe auch eine verharmlosende und die Tatsachen verwischende Sprache beigetragen. Es gehe ihm aber nicht „um nachträgliche Schuldzuweisungen, sondern um die Erkenntnis von Mechanismen, die wir zu beachten haben“, stellte der Kardinal klar: „Es ist festzuhalten, dass die Opfer und ihre Perspektive und ihr Leiden systematisch ausgeblendet waren. Das Schuldbewusstsein in diesem Punkt war offensichtlich weitgehend nicht da.“ Im Nachhinein sei auch dann eine große Schuld auszumachen, wenn man sage, damals hätte man die Auswirkungen solchen Missbrauchs auf die Kinder so nicht wissen können, erklärte Marx mit Blick auf das Psalmwort „Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist!“ (Ps 19,13).

Der Erzbischof lehnte es ab, im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um die Missbrauchsfälle Medienschelte zu betreiben, auch wenn die Berichterstattung zunehmend auf Personalisierung und Skandalisierung ziele: „Es nützt nichts, auf die Medien zu schimpfen, sondern es geht darum, durch beispielhaftes Handeln, durch Gespräche und auch durch Klarstellungen offen und überzeugend Position zu beziehen.“ Kampagnen der Medien könnten nur dann zum Ziel führen, wenn in den Vorwürfen etwas an Wahrheit zu finden sei, gab Marx zu bedenken: „Hier ist man als Bischof gefordert, sich den Medien und der Öffentlichkeit zu stellen. Abschottung, Verharmlosung und Relativierung führen nicht zum Ziel, neue Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Deshalb gibt es keine Alternative zu Offenheit, Transparenz und Wahrhaftigkeit.“

Die Missbrauchsthematik berühre auch das Verhältnis von Kirche und Staat, so der Kardinal weiter: „Es muss grundsätzlich klar sein, dass Kirche und Staat in diesen Fragen eng zusammenarbeiten und die staatliche Gesetzgebung nicht als Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten verstanden wird, wie es in den vergangenen Jahrzehnten durchaus vorgekommen ist.“ Die Kirche habe neu gelernt, dass staatliche und kirchliche Rechtskreise sich nicht ausschließen, sondern ergänzen müssten und bei Straftatbeständen von kirchlichen Mitarbeitern der Kontakt zur Staatsanwaltschaft je nach Umständen des Falls notwendig sei.

Für den Bischof in seinem Handeln sei vor allem wichtig, „klare Ziele im Blick zu behalten und sie zu operationalisieren bis in die konkrete Organisation der Verwaltung hinein“, betonte Marx: „In unserem Zusammenhang geht es um das klare Ziel, Kinder zu schützen, ihnen einen guten Ort in der Kirche zu ermöglichen, sie zu fördern, sie zu ihren von Gott gegebenen Möglichkeiten zu führen, sie entdecken zu lassen, dass der Glaube an Christus ihr Leben vertieft, erweitert und das Leben gut werden lässt.“ Der Bischof müsse sich der Aufgabe bewusst sein, die sich aus der Tatsache herleite, dass die Kirche durch die Jahrhunderte hindurch immer auch „ein großartiger Ort der guten Pädagogik“ gewesen sei. „Es ist dann klar, dass die sich daraus ergebenden Ziele nur erreicht werden können mit qualifizierten Mitarbeitern, mit einer effizienten Kontrolle im Sinne einer Qualitätssicherung, mit einer guten Verwaltung und auch mit einer Disziplinarordnung, die Verstöße ahndet“, sagte der Kardinal. Mit Blick auf die sexualisierte Gewalt habe die Prävention eine besonders hohe Priorität, damit Kirche ein Ort sein könne, wo Kinder und Jugendliche wirklich sicher seien.

Marx warnte ausdrücklich vor Nachlässigkeit in der Verwaltung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Kirchenrecht: „Die Erfahrungen zeigen eben, dass ein Verfall der kirchlichen Verwaltung bis in die Aktenführung hinein, eine Missachtung des Kirchenrechts und der Disziplin und eine Vernachlässigung der Qualitätskontrolle zu außerordentlich unerwünschten Folgen führen. An der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wird das besonders eklatant sichtbar.“

Der Erzbischof von München und Freising erinnerte an die Aufarbeitung in seiner Erzdiözese, in der bereits Ende des Jahres 2010 unabhängige Gutachter eine Untersuchung aller Personalakten seit dem Jahr 1945 abgeschlossen hatten. „Diese Untersuchung geschah sowohl im Blick auf die Missbrauchsfälle als auch im Blick auf das Verhalten der Verantwortlichen, um daraus zu lernen und Fehler für die Zukunft zu vermeiden“. Der Bericht habe deutlich gemacht, dass der Umgang mit den Fällen sehr oft geprägt gewesen sei vom Gedanken des Schutzes der Institution und dass die Aktenführung nicht konsequent und nachvollziehbar gewesen sei.

Nach einem Schuldbekenntnis der bayerischen Bischöfe und später durch die gesamte Deutsche Bischofskonferenz seien sehr schnell konkrete Maßnahmen im Blick auf Prävention und Fortbildung der Priester und Mitarbeiter ergriffen worden, sagte Marx mit Blick auf das Krisenjahr 2010: „Bei aller Kritik wurde doch erkennbar, dass die katholische Kirche in gewisser Weise in der Aufarbeitung und Prävention sexuellen Missbrauchs mittlerweile eine Vorreiterrolle übernommen hatte. Denn immer deutlicher wurde, dass auch andere gesellschaftliche Bereiche sich mit dem Thema befassen mussten.“ Spätestens mit der Einführung des so genannten Runden Tischs durch die deutsche Bundesregierung sei klar geworden, dass es um alle gesellschaftlich relevanten Bereiche gehe und dass nicht mehr nur die katholische Kirche im Zentrum der kritischen Betrachtung gestanden sei.

Der Kardinal hob hervor, dass die Erzdiözese München und Freising über die bereits erfolgten Maßnahmen hinaus noch mehr tun wolle. Aus diesem Grund habe sie sich an dem laufenden Kongress der Gregoriana beteiligt und wirke gleichzeitig an der Entwicklung eines Internetportals zur Prävention sexuellen Missbrauchs mit: „Es ist ein Zeichen dafür, dass wir als Weltkirche – miteinander vernetzt – im Blick auf das körperliche und seelische Heil der Kinder und Jugendlichen arbeiten wollen. Nur so kommen wir aus der Phase der Reaktion wieder in die Möglichkeit, positiv zu agieren und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.“

Bei dem Kongress, den die Gregoriana vom 6. bis 9. Februar veranstaltet, referieren neben Kardinal Marx Fachleute aus aller Welt sowie der Präfekt der für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zuständigen vatikanischen Glaubenskongregation, Kardinal William Joseph Levada. An dem Symposium nehmen Delegierte aus nahezu allen Bischofskonferenzen der Welt sowie Ordensobere, Psychologen und Kirchenrechtler teil.

Zentrum für Kinderschutz

Das Münchner Zentrum für Kinderschutz wird vom Institut für Psychologie der Gregoriana in Kooperation mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm aufgebaut. Neben der Erzdiözese München und Freising fördern die Diözesen Augsburg und Osnabrück, die Barmherzigen Schwestern (Mutterhaus München) sowie private Sponsoren das Zentrum mit einer Gesamtsumme von knapp 1,2 Millionen Euro für drei Jahre. Die Einrichtung wurde bereits am 20. Januar dieses Jahres eröffnet. Ziel des Zentrums für Kinderschutz ist es, durch internetgestützte Qualifizierungsangebote Priester, Diakone, pastorale Mitarbeiter, Religionslehrer sowie Ehrenamtliche und Katecheten weltweit für die Problematik des sexuellen Kindesmissbrauchs und sexualisierter Gewalt zu sensibilisieren und in ihrer Handlungskompetenz zu stärken. Das Zentrum wird Online-Schulungen in mehreren Sprachen in Kooperationsprojekten mit Diözesen und Ordensgemeinschaften in Argentinien, Ecuador, Deutschland, Ghana, Indien, Indonesien, Italien und Kenia entwickeln, erproben und wissenschaftlich auswerten. In jedem der Partnerländer nehmen jeweils 100 kirchliche Mitarbeiter an dem Projekt teil. Das Konzept orientiert sich an dem E-Learning-Projekt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung an der Universität Ulm zur Qualifizierung von pädagogischen und medizinisch-therapeutischen Berufen im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch fördert. (kel)

Hinweis:
Weitere Informationen zum E-Learning-Projekt des Universitätsklinikums Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, im Internet unter www.elearning-childprotection.com. Informationen zum internationalen Symposium „Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung“ an der Päpstlichen Universität Gregoriana unter www.thr.unigre.it.