„Aus der Krise mit dem Blick von unten her, von denen, die die Last tragen“

Kardinal Marx hält Vortrag zu Ehren des Jesuitenpaters und Sozialwissenschaftlers Oswald von Nell-Breuning
München/Frankfurt am Main, 30. September 2021. Im Anschluss an die Überlegungen des Jesuitenpaters und Sozialwissenschaftlers Oswald von Nell-Breuning hat Kardinal Reinhard Marx dazu aufgerufen, zur Überwindung der gegenwärtigen Krisen die Perspektive der Benachteiligten und an den Rand Gedrängten einzunehmen: „Wenn wir aus der Krise kommen wollen, dann müssen wir von unten her, von denen, die die Lasten, die Folgen und die Kosten tragen, aufs Ganze schauen, nicht von oben her“, so der Erzbischof von München und Freising bei seinem Vortrag „Solidarisch aus der Krise kommen – Impulse aus dem Denken von Oswald von Nell-Breuning“ am Mittwochabend, 29. September. Marx sprach im Rahmen einer Tagung zu Ehren des 1991 verstorbenen Verfechters der Katholischen Soziallehre in der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
 
            Der Kardinal betonte in seinen Ausführungen, dass die Katholische Soziallehre im Sinne Nell-Breunings über jedes ideologische Denken hinausgehe, dass sie „weder konservativ noch progressiv“ sei, sondern sich in erster Linie „an dem Menschen orientiert“. Es gehe um eine Hinwendung zu den Sachverhalten und Lebensverhältnissen, nicht um „Theorien über die Dinge, sondern den Blick auf die Menschen, die die Folgen zu tragen haben, die am meisten betroffen sind“. Es handle sich letztlich um einen Blick „von der Peripherie her“, wie ihn Papst Franziskus fordere. Entsprechend habe sich Oswald von Nell-Breuning „in Details vertieft, die Dinge genau überprüft, hingeschaut und genau nachgedacht“.
 
            Dem Perspektivwechsel hin zu den Menschen am Rande entsprechend braucht es laut Marx auch ein neues Nachdenken über eine „Wirtschaft, die dem Menschen dient“, und darüber, „wo Ungleichheiten und Gefährdungen“ entstehen. Die Gesellschaft stehe vor großen Umbrüchen und am Ende einer Entwicklung, ist der Kardinal überzeugt. So gebe es schon seit Jahrzehnten eine „Diskussion über unser westliches Wohlstandsmodell“ und die Wirtschaftsform, die die westliche Gesellschaft in die Welt gebracht habe, „mit großen Erfolgen, aber auch mit schwerwiegenden Folgen“. Es käme „jetzt die Rechnung auf den Tisch, dabei ist die Pandemie nur ein Verstärker“, so Marx. Dass über die bisherigen Modelle mit ihren Unzulänglichkeiten hinausgedacht werden müsse, zeige sich an den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen: an den größer gewordenen Ungleichheiten, an der Finanzkrise, der Klimakrise, den zunehmenden Spannungen und einer Renaissance der Nationalismen.
 
Neu in den Mittelpunkt müsse der Begriff der Solidarität gerückt werden, der „eben nicht Solidarität nur mit meiner Gruppe“ bedeute, sondern immer auf das Gemeinwohl ziele: „Es ist kein Fundament für eine Gesellschaft gegeben, wenn nicht alle mit im Boot sind. Das ist nicht nachhaltig und führt nicht zu einer stabilen Gesellschaft. Wenn einer aus dem Boot fällt, muss alles dafür getan werden, dass er wieder ins Boot kommt“, sagte Marx. Zugleich betonte er die Bedeutung der Arbeit: „Erwerbsarbeit bleibt ein Schlüssel für die Freiheit und die Demokratie“, entsprechend gelte es, „Chancen für alle“ zu schaffen und die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft zu bekämpfen. 
 
            Kardinal Marx warnte vor einem Denken, das sich danach sehne, „nach der Pandemie möglichst schnell wieder in alte Bahnen zu finden“. Vielmehr sei es jetzt wichtig, sich an der Idee „der einen Menschheitsfamilie“ zu orientieren und eine „neue Fortschrittsidee“ auf den Weg zu bringen. Gerade auch die Kirche habe den Auftrag, in diesem Sinn Bewusstsein zu wecken und Impulse zu setzen für eine „globale Solidarität“. (ck)