Generalvikar Klingan gibt Statement zum Gutachten

Erklärung des Generalvikars der Erzdiözese München und Freising zum neuen Gutachten über sexuellen Missbrauch im Bereich der Erzdiözese
München, 27. Januar 2022. Bei einer Pressekonferenz in der Katholischen Akademie Bayern hat der Generalvikar der Erzdiözese München und Freising, Christoph Klingan, am Donnerstag, 27. Januar, zum externen Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019“ erklärt:
 
„Das von uns beauftragte externe Gutachten hat uns vieles schonungslos vor Augen geführt. Ich habe es bei der Gutachtensveröffentlichung schon gesagt: Mich bewegt das sehr und es beschämt mich. Doch diesen Eindruck ehrlich ins Wort zu bringen, ist natürlich nicht genug.
 
Es geht darum, dass wir mehr vom Reden ins Tun kommen und dabei möglichst zügig die richtigen Schritte setzen: Unser erstes Augenmerk muss den Betroffenen von sexuellem Missbrauch hier im Erzbistum gelten. Das ist ohne Zweifel in der Vergangenheit zu kurz gekommen.
 
An dieser Stelle bitte ich noch einmal alle Betroffenen, die sich bisher aus verschiedenen Gründen nicht gemeldet haben: Wenden Sie sich an die unabhängigen Ansprechpersonen. Sie stehen ihnen jederzeit für eine Kontaktaufnahme zur Verfügung. Es sind eine Psychologin und ein Jurist, die ihre Arbeit unabhängig und extern tun, also keine Angestellten der Kirche. Uns als Erzdiözese ist es ein großes Anliegen, dass sich die Betroffenen melden.
 
Von unserer Seite gilt es, ihnen zuzuhören und sie bestmöglich zu unterstützen mit konkreten Angeboten. Auf Anregung von Betroffenenbeirat und Aufarbeitungskommission und im Dialog mit ihnen haben wir eine Anlauf- und Beratungsstelle auf den Weg gebracht.
 
Sie ist ansprechbar, steht den Betroffenen zur Seite, kann mit ihnen in einem selbstverständlich vertraulichen Rahmen schauen, was für sie wichtig ist, was es für Möglichkeiten der Begleitung und Unterstützung gibt, was sie sich wünschen, was sie brauchen. Auch nichtkirchliche Beratungsstellen gehören neu zu dem Netzwerk, das hier in Anspruch genommen werden kann.
 
Die Anlauf- und Beratungsstelle mit erfahrenen Beraterinnen und Beratern ist seit Gutachtensveröffentlichung von Montag bis einschließlich Samstag erreichbar. Sie wird über die aktuelle Phase der öffentlichen Diskussionen zum Gutachten hinaus dann zeitlich entsprechend angepasst als feste, dauerhafte Einrichtung bestehen bleiben – nicht als ein Fachbereich in der Ordinariatsstruktur, sondern als Stabsstelle direkt bei mir. In den vergangenen Tagen haben sich bereits über 50 Menschen dort gemeldet, darunter auch mehrere Betroffene von sexuellem Missbrauch. Diese Stelle steht, wie gesagt, weiter zur Verfügung.
 
Ebenfalls aus den Gesprächen mit Betroffenen entstanden ist eine weitere Neuerung, die wir in den nächsten Monaten umsetzen werden. Erste Schritte dazu sind bereits getan. Es wird einen Seelsorger und eine Seelsorgerin geben, die für Betroffene nach außen wahrnehmbar und direkt ansprechbar sind.
 
Für mich war es eine sehr schmerzliche Erkenntnis im Austausch mit Betroffenen: Viele hätten sich, nachdem sie sich gemeldet hatten, seelsorgliche Begleitung gewünscht. Das haben wir zu wenig angeboten, es war vielfach nicht wirklich greifbar. Natürlich standen schon bisher speziell Seelsorger dafür zur Verfügung, aber eben meist nur über Vermittlung der Ansprechpersonen oder anderer Stellen.
 
Es war der ausdrückliche Wunsch, hier direkt zugänglich und wahrnehmbarer ein Angebot mit qualifizierten Personen zu setzen, die auch aktiv auf Betroffene zugehen und Begleitung anbieten. Denn viele Betroffene sind durch die schrecklichen Erfahrungen mit Vertretern der Kirche zutiefst in ihrem Glauben erschüttert worden, manche haben ihn ganz verloren. Auch in dem offenen Brief eines Mitglieds des Betroffenenbeirats vorgestern kam das eindrücklich zur Sprache. Organisatorisch wird sich das neue Angebot mit der Anlauf- und Beratungsstelle verbinden.
 
Die ebenfalls im Gutachten ausgesprochene Empfehlung, eine unabhängige Ombudsstelle zu schaffen, werden wir vor dem Hintergrund der bestehenden Strukturen für Betroffene nochmals gesondert in den Blick nehmen. Es werden ja jetzt zwei nichtkirchliche Beratungsstellen für Betroffene zur Verfügung stehen. Hier wollen wir aber natürlich die Einschätzung von Betroffenenbeirat und Aufarbeitungskommission einholen.
 
Der Bildung dieser beiden Gremien im vergangenen Jahr ging ein intensiver Prozess voraus. Sie werden von uns organisatorisch unterstützt, inhaltlich arbeiten sie ganz unabhängig. Es ist sehr wichtig, dass wir diese kritischen Instanzen jetzt haben. Sie begleiten unsere Arbeit im Umgang mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs mit ihrem je spezifischen Blick. In der Aufarbeitungskommission sind dazu verschiedene Fachleute vertreten, z.B. eine Pädagogin, ein Psychologe, ein Jurist oder ein Sozialpädagoge.
 
Sie sind mehrheitlich von der Bayerischen Staatsregierung benannt, zwei Mitglieder auch vom Betroffenenbeirat. Nach der Vorstellung des Gutachtens letzten Donnerstag haben Frau Dr. Herrmann und ich am Abend uns noch zwei Stunden mit dem Betroffenenbeirat ausgetauscht. Wir sind sehr dankbar, dass das möglich war und wollen diesen Dialog gemeinsam auch mit dem Erzbischof fortsetzen.
 
Die Perspektive der Betroffenen gehört in den Mittelpunkt. So soll im März auch eine Veranstaltung nachgeholt werden, die letztes Jahr coronabedingt abgesagt werden musste: „Betroffene hören“ ist ihr Titel, „Hören“ hier im Sinne von „ihnen eine Stimme geben“.
 
Die unmittelbare Einbeziehung von Betroffenen, das, was sie sagen, ist auch wesentlich in der Präventionsarbeit. Hier wird der Erzdiözese im Gutachten ja ein gutes Zeugnis ausgestellt. Wir verstehen das aber nicht als Aufforderung zum Zurücklehnen, sondern als Ansporn: Der attestierten Vorbildfunktion in diesem Bereich auch für andere Institutionen gilt es weiter gerecht zu werden.
 
Bald nach meinem Amtsantritt als Generalvikar habe ich die Prävention als Stabstelle bei mir angesiedelt, um deutlich zu machen, dass hier eine zentrale Aufgabe für die Zukunft liegt. Die Mitarbeitenden sind so mit der nötigen Autorität ausgestattet, das Thema ins Erzbistum zu tragen.
 
Ich nenne nur schlagwortartig: E-Learning-Programm für alle Mitarbeitenden in der Pastoral verpflichtend, aktuell gerade Schulungen in den Kindergärten, weitere Veranstaltungen, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema und Engagement über die Bistumsgrenzen hinaus, wie die Unterstützung des von der Erzdiözese mitbegründeten Kinderschutzzentrums in Rom, heute Institut für Anthropologie der Universität Gregoriana.
 
In der Prävention richten wir den Blick nach vorne. Und damit komme ich abschließend noch zu einem Thema, das uns die Gutachter ebenfalls ins Stammbuch geschrieben haben aufgrund von Defiziten in der Vergangenheit: Der Blick auf die Pfarreien, in denen Missbrauchstäter eingesetzt waren. Es stehen jetzt Fachleute zur Verfügung, im Ordinariat und extern, die bei Bedarf kurzfristig vor Ort unterstützen können. Auch hier ist es so, dass in der Vergangenheit nicht nichts getan wurde, aber offensichtlich zu wenig.
 
Das Gutachten schildert ja am Beispiel des Falles X, welch ungute Dynamiken hier entstehen können, im Gutachten ist wörtlich von „Spaltung innerhalb der dort dortigen Gläubigen“ die Rede. Das war zu wenig im Blick. In diesem Zusammenhang bin ich der Initiative Sauerteig in Garching sehr dankbar. Sie haben mitgeholfen, uns für diesen Aspekt neu die Augen zu öffnen. Seit dem März 2020 haben wir einen Weg zurückgelegt, der schwierig und herausfordernd war und ist, auch für uns als Erzdiözese, das will ich nicht verhehlen.
 
Aber wir haben, das wage ich zu sagen, in diesem Dialog schon viel gelernt, eben auch durch die harsche Kritik, durch den eingangs angesprochenen, schonungslosen Blick für die Wahrheit. Mit diesem Blick und im Hören auf die Betroffenen und die Experten aus den verschiedensten Bereichen wollen wir in die Zukunft gehen und versuchen, als Kirche unseren Auftrag vom Evangelium her glaubwürdig zu erfüllen. Diese Krise bzw. das, was wir aus ihr lernen, wird uns dabei helfen.“

PDF mit dem Statement zum Herunterladen

Erklärung des Generalvikars der Erzdiözese München und Freising zum neuen Gutachten über sexuellen Missbrauch im Bereich der Erzdiözese