Für eine Kultur der verantwortlichen Freiheit in Europa

Kardinal Marx betont bei Europäischen Zukunftsgesprächen die Aufgabe der christlichen Soziallehre
München, 10. November 2023. Kardinal Reinhard Marx hat zu den Europäischen Zukunftsgesprächen, an der Ludwig-Maximilians-Universität München betont, dass das „Programm Europas eine Kultur der verantwortlichen Freiheit“ ist, und die universell gültigen Grundprinzipien der christlichen Soziallehre bekräftigt. „Der Anspruch der Soziallehre ist, dass ihre Grundsätze für jeden nachvollziehbar sind und jeder Mensch im Prinzip zustimmen kann“, sagte Kardinal Marx während seines Impulsvortrags zu der Diskussionsveranstaltung „Sozialprinzipien als Säulen Europas: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Nachhaltigkeit.“ am Donnerstag, 9. November. Im Anschluss diskutierten der Erzbischof von München und Freising und Dr. Christian Gsodam, Kabinettschef im Europäischen Ausschuss der Regionen in Brüssel und Initiator der Europäischen Zukunftsgespräche, und beantworteten Fragen aus dem Publikum. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit Prof. Hans-Otto Seitschek, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LMU, statt.
 
Kardinal Marx ging in seinem Vortrag auf die vier Sozialprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit ein, die er als Leitlinien der europäischen Politik, aber auch als große Herausforderungen im konkreten politischen Handeln charakterisierte. Die Personalität, also das grundlegende Verständnis, dass „der Mensch sich nicht verstehen kann, ohne die anderen Menschen und die Beziehung zu ihnen“ ergebe sich aus der biblischen Überzeugung, dass „alle Menschen Brüder und Schwestern sind, ebenbürtig in ihrer Würde.“ Dieses positive Menschenbild sei, so Marx, die „Grundlage auch der Europäischen Union und der westlich geprägten Demokratien, und nicht nur aus christlicher Perspektive nachvollziehbar“, wie etwa der Blick auf die Menschenrechte zeige. „Die EU als weltweit einzigartiges Gemeinwesen eigener Art“ solle „wie ein Flaggschiff der Demokratie für die ganze Welt sein“. Der Erzbischof zeigte sich im Zusammenhang der aktuellen Debatten um Migration und Asylpolitik im Hinblick auf die Umsetzung der Grundprinzipien der Personalität, aber auch der Solidarität in Europa besorgt.
 
Kardinal Marx betonte, dass „Subsidiarität das Prinzip geteilter Verantwortung ist“, das für das Verständnis der EU bedeutsam sei. Der Begriff der Subsidiarität sei derzeit Gegenstand von heftigem Ringen innerhalb der EU, weil der Wunsch nach einheitlichen Werten und Regelungen im Widerspruch zum Konzept der Souveränität der Mitgliedsstaaten wahrgenommen werde. „Dabei wird Subsidiarität oft missverstanden“, bedauerte Marx. „Es bedeutet: Verantwortung liegt auf vielen Schultern.“ Entsprechend bedeute das Prinzip der Solidarität keine Verkürzung auf Eigenverantwortung, sondern bedürfe eines ständigen Ausgleichs innerhalb der EU. Auch Nachhaltigkeit sei ein Sozialprinzip, so Marx, denn „wenn jeder nur seine je individuellen Interessen vertritt,“ gerate das Ganze, das Soziale aus dem Blick. Der Erzbischof wies darauf hin, dass Europa die Chance habe, „ein gewichtiges Zeichen zu setzen“ für Demokratie und für eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft“, die über einen simplen Kapitalismus hinausdenke.
 
Die sich ergänzenden und manchmal scheinbar widersprechenden Prinzipien Europas fügen sich nach Ansicht des Erzbischofs von München und Freising zusammen zu einer „Kultur der verantwortlichen Freiheit“. Die Prinzipien der Sozialethik müssten jedoch mit Leben gefüllt werden. „Prinzipien gibt es nur, wenn Menschen sie leben. Sie müssen in der Praxis verwurzelt werden, dann kann man sie erleben und erfahren.“ Europa, forderte der Kardinal, müsse „ein leidenschaftliches, ein patriotisches Thema sein“ und „ein Projekt werden, für alle Bürgerinnen und Bürger.“ Im Rückgriff auf Jean Monnet betonte Marx, dass „Europa ein Beitrag für eine bessere Welt“ sein solle. Auch in der abschließend Diskussion unterstrich Kardinal Marx, dass sich – gerade auch angesichts des Krieges in der Ukraine und des auch in Europa zutage tretenden Antisemitismus – die Kirchen an der europäischen Idee positiv und motivierend beteiligen sollen, um die Demokratie und die Idee der europäischen Friedensgemeinschaft zu stärken. (fho)