Kardinal Reinhard Marx: „Wir wollen an der Seite der Betroffenen stehen“

Erzbischof bittet Betroffene um Entschuldigung und ruft zur Meldung möglicher Missbrauchsfälle auf Erzdiözese nimmt Stellung ein Jahr nach Veröffentlichung des zweiten Missbrauchsgutachtens
München, 17. Januar 2023. Bei einer Pressekonferenz ein Jahr nach Veröffentlichung des zweiten externen Gutachtens zu sexuellem Missbrauch im Bereich der Erzdiözese München und Freising hat Kardinal Reinhard Marx betont, wie entscheidend Bedürfnisse und Belange der Betroffenen für Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch seien. „Wir wollen an der Seite der Betroffenen stehen – dass wir das in unserem Erzbistum behaupten dürfen und mit Taten belegen können, war ein Prozess und bleibt eine Aufgabe“, so der Erzbischof von München und Freising am Dienstag, 17. Januar, in der Katholischen Akademie in München.
 
Dass die Perspektive der Betroffenen anfänglich zu wenig berücksichtigt worden sei, „war unser größtes Defizit. Das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen“, erklärte Marx und bat alle Betroffenen um Verzeihung. Für das damit verbundene Leid werde er als Bischof immer in der Verantwortung stehen und er „bitte nochmals um Entschuldigung. Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich!“ Marx rief zugleich dazu auf, Hinweise auf möglichen Missbrauch zu melden: „Wir bitten alle, die von Grenzverletzungen, Missbrauch und sexuellen Übergriffen durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sind, sich bei den externen Unabhängigen Ansprechpersonen zu melden.“
 
Aufarbeitung und Prävention „sind und bleiben zentrale Aufgaben der Kirche“, betonte der Kardinal. Für ihn persönlich seien die Begegnungen und Gespräche mit Betroffenen wichtig, die er seit 2010 und nochmals verstärkt seit dem vergangenen Jahr geführt habe: „Auch weiterhin bin ich gerne dazu bereit. Aus diesen Gesprächen lerne ich viel und ich bin vor allem den Betroffenen dankbar, dass sie bereit sind, mit mir zu sprechen.“ Der Kardinal dankte auch den Mitgliedern des Betroffenenbeirats und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, deren kritische wie konstruktive Begleitung für Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch in der Erzdiözese von besonderer Bedeutung seien.
 
Um für Betroffene direkt ansprechbar zu sein und ihnen unmittelbar Unterstützung anzubieten, habe die Erzdiözese mit Veröffentlichung des zweiten Missbrauchsgutachtens eine Anlauf- und Beratungsstelle eingerichtet. Darin kommt nach Ansicht von Marx „das zentrale Anliegen zum Ausdruck: für die Betroffenen da zu sein, ihnen zuzuhören, ihr Leid, ihre Anliegen und ihre Wünsche ernst zu nehmen, und sie nach Möglichkeiten und in vielfältiger Weise zu unterstützen“. Schließlich unterstrich der Erzbischof die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Missbrauch auf weltkirchlicher Ebene und im Rahmen des Synodalen Wegs: „Unbestritten kann die Aufarbeitung von Missbrauch nicht getrennt werden vom Weg der Veränderung, der Erneuerung und der Reform der Kirche.“ Bei allem, was bislang im Raum der Kirche in Bezug auf Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch erreicht worden sei, dürfe man nicht stehen bleiben, sagte Marx: „Angesichts dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, angesichts des Leids, das Betroffene erfahren haben, wird es unser stetes Bemühen bleiben, alles, was uns möglich ist, zu unternehmen, um das erfahrene Leid zu lindern und künftiges zu verhindern.“
 
Das vor einem Jahr veröffentlichte Gutachten, das neben dem Leid der Betroffenen auch die Versäumnisse der Institution vor Augen führe, habe ihn persönlich „erschüttert und bewegt“, sagte Christoph Klingan, Generalvikar des Erzbischofs, im Rahmen der Pressekonferenz: „Doch war von Anfang an klar, dass dies nicht genügt, es vielmehr darum gehen muss, daraus folgend auch konkrete Schritte zu setzen.“ So habe man im vergangenen Jahr verschiedene neue Maßnahmen umgesetzt bei der Aufarbeitung, Prävention „und, ganz zentral, der Hinwendung zu den Betroffenen von sexuellem Missbrauch“, was in der Vergangenheit „unbestritten zu kurz“ gekommen sei. Dafür galt und gilt es laut dem Generalvikar, sich „mit Betroffenen und mit externen Fachleuten aus verschiedenen Bereichen auszutauschen“, vor allem auch mit den Mitgliedern des Betroffenenbeirats und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, aber ebenso mit Vertretern weiterer Institutionen und Einzelpersonen, die in dem Bereich arbeiteten. Intensiviert wurde nach Angaben Klingans der direkte Dialog der Leitung der Erzdiözese – des Erzbischofs, des Generalvikars sowie der Amtschefin des Ordinariats – mit Betroffenen bei verschiedenen Anlässen, etwa beim Tag der Begegnung mit Betroffenen, den die Unabhängige Aufarbeitungskommission im vergangenen September veranstaltete.
 
Unter den konkreten Schritten hob Klingan die Einrichtung der Stabsstelle „Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese“ hervor, die seit Sommer 2022 das Angebot der vor Veröffentlichung des Gutachtens geschaffenen Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene verstetigte und um die Möglichkeit einer niedrigschwelligen seesorglichen Begleitung erweiterte. Die direkt beim Generalvikar angesiedelte Stabsstelle mit einem Team aus einem Seelsorger, zwei Psychologinnen mit je besonderer Kompetenz beim Thema Missbrauch und einer Verwaltungskraft habe sich „sehr bewährt und wir wollen sie auch noch weiterentwickeln, das Team möglicherwiese nochmal um eine Person mit wiederum spezifischer Qualifikation ergänzen“, kündigte Klingan an. Daneben bestünden Kooperationsvereinbarungen mit zwei unabhängigen, nichtkirchlichen Fachberatungsstellen, die auf das Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend spezialisiert sind, sowie mit der Traumaambulanz der Ludwig-Maximilians-Universität München, in deren Rahmen acht Therapieplätze zur Verfügung stünden.
 
Neben der Hinwendung zu den Betroffenen sei die Prävention von Missbrauch eine „zentrale Aufgabe“, betonte Klingan: „Hier hatte uns das Gutachten vor einem Jahr schon ein gutes Zeugnis ausgestellt. Das haben wir als Auftrag verstanden, in diesem Bereich nicht nachzulassen, sondern vielmehr an einer Weiterentwicklung zu arbeiten“. Wichtig sei schließlich auch, sich „in einer breiten Öffentlichkeit mit dem Thema auseinanderzusetzen“, erklärte der Generalvikar. Dies erfolgte etwa bei der im Oktober 2022 in der Münchner Herz-Jesu-Kirche von der Erzdiözese veranstalteten Aufführung der Kunst-Performance „Here we are – Missbraucht. Verraten! Hoffnung?“ oder bei dem im November von Betroffenen mitgestalteten Wortgottesdienst in der Pfarrkirche Unterwössen, in der ein Künstler einen Andachtsraum zum Thema Missbrauch geschaffen hat. Diese Beispiele und weitere Maßnahmen zeigen laut Klingan: „Wir wollen weiter im Dialog mit den Betroffenen die Schritte der Aufarbeitung tun, die wir tun können, und alles daran setzen, dass Missbrauch in der Erzdiözese bestmöglich verhindert wird.“
 
Laut Stephanie Herrmann, Amtschefin des Erzbischöflichen Ordinariats, haben die Ergebnisse des zweiten Missbrauchsgutachtens nicht nur die Leitung der Erzdiözese erschüttert, „sondern auch die Mitarbeitenden schockiert und viele Fragen und Zweifel aufgeworfen“. Man habe an diesen Fragen in zahlreichen Gesprächen, Diskussionsrunden und Dialogveranstaltungen gearbeitet. „Die intensive Beschäftigung mit den Ergebnissen des Gutachtens hat uns auf allen Ebenen im Umgang mit dem Thema Missbrauch sensibilisiert und die Haltung gegenüber Betroffenen geprägt, aber auch die Offenheit für Maßnahmen zur Prävention gefördert.“ So sei etwa im Frühjahr ein neuer Verhaltenskodex zur Prävention von sexualisierter Gewalt erlassen worden, in dem der wertschätzende und respektvolle Umgang festgehalten werde und der es Betroffenen und Dritten erleichtern soll, Grenzverletzungen zu erkennen und zu benennen, sich Hilfe zu holen und sexuell übergriffigem Verhalten Einhalt zu gebieten. Neben der Prävention und der Unterstützung von Betroffenen hob Herrmann die Intervention bei Hinweisen auf Missbrauch als wichtiges Handlungsfeld hervor, das schon vor Veröffentlichung des Gutachtens personell aufgestockt worden sei. Ebenso sei die Zahl der unabhängigen Ansprechpersonen von zwei auf drei erhöht und damit auch der berufliche Hintergrund der Ansprechpersonen erweitert worden, „um den verschiedenen Anliegen und Vorstellungen der Betroffenen gerecht“ zu werden. Diese könnten nun zwischen einem Juristen, einer Psychologin und einer Sozialpädagogin als Ansprechperson wählen.
 
Handlungsleitend im Umgang mit aktuellen Verdachtsfällen seien zwei Fragen, führte Amtschefin Herrmann aus: „Zum einen geht es darum, Schutzbefohlene wie Kinder und Jugendliche rasch zu schützen und Wiederholungstaten zu verhindern. Das kann durch die Freistellung des oder der Beschuldigten erreicht werden. Zum anderen ist das Ziel, die betroffene Person in den Blick zu nehmen und bestmöglich zu unterstützen. Was ist ihr Anliegen? Was braucht sie und wie können wir sie unterstützen – therapeutische oder finanzielle Hilfe oder seelsorgliche Begleitung, Unterstützung von einer spezialisierten Organisation?“ Beim Verdacht auf eine Straftat werde prinzipiell Anzeige erstattet in enger Absprache mit der betroffenen Person, die auch bei den weiteren Schritten, zum Beispiel einer Aussage vor Gericht, bestmöglich unterstützt und begleitet werde. Auch seien der Generalvikar und sie als Amtschefin unmittelbar nach Erscheinen des zweiten Missbrauchsgutachtens auf die Generalstaatsanwaltschaft zugegangen, um ihre volle Kooperationsbereitschaft zuzusagen. Neben der beständigen Weiterentwicklung der Aktenführung in Bezug auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit habe man einer Empfehlung des Gutachtens von 2022 folgend Ausführungsbestimmungen zur Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in Kraft gesetzt, die detailliert und nachvollziehbar regeln, welche Prozesse greifen, wenn ein Verdachtsfall gemeldet wird. „Wo wir unsere Abläufe und Strukturen verbessern können, tun wir es. Wir werden am Thema sexualisierte Gewalt dranbleiben und kontinuierlich weiterarbeiten, um Missbrauch aufzuarbeiten, neue Taten zu verhindern und Betroffenen beizustehen“, versicherte Herrmann.
 
Im Rahmen der Pressekonferenz berichteten auch Pfarrer Kilian Semel, Leiter der Stabsstelle „Seelsorge und Beratung für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese München und Freising“, sowie Christine Stermoljan, Leiterin der Stabsstelle Prävention im Erzbischöflichen Ordinariat, über ihre Arbeit.
 
Am Dienstagabend, 17. Januar, um 19 Uhr findet in der Katholischen Akademie zudem eine Podiumsveranstaltung im Rahmen der Domberg-Akademie-Reihe „Umkehr: Kirchesein angesichts des Missbrauchsskandals“ statt. Unter dem Titel „Von Aufarbeitung und Reformbemühungen: Was haben die Kirchen und ihre Verantwortlichen für die Zukunft gelernt?“ diskutieren Kardinal Marx, Kai Christian Moritz, Schauspieler, Sänger und Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, der Theologe Thomas Söding, Vizepräsident des Synodalen Weges, Maria-Theresia Kölbl, Geistliche Verbandsleiterin des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend Bayern und die Landtagsabgeordnete Doris Rauscher, Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie sowie Mitglied der Kinderkommission des Bayerischen Landtags. Moderiert wird die Runde von der Direktorin der Domberg-Akademie, Claudia Pfrang. Im Anschluss an die Diskussion besteht die Gelegenheit zur Begegnung und zum weiteren Austausch. (ck)
 
 
Hinweise:
Eine Broschüre mit Informationen zum Engagement der Erzdiözese München und Freising in der Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt kann unter www.erzbistum-muenchen.de/booklet-gutachten heruntergeladen oder eingesehen werden. Weitere Informationen zum Thema finden sich unter www.erzbistum-muenchen.de/missbrauch-und-praevention.
Eine Anmeldung zur Podiumsveranstaltung der Domberg-Akademie erfolgt unter www.domberg-akademie.de/veranstaltungen-detail/von-aufarbeitung-und-reformbemuehungen, für eine digitale Teilnahme unter www.domberg-akademie.de/veranstaltungen-detail/digital-von-aufarbeitung-und-reformbemuehungen-was-haben-die-kirche-und-ihre-verantwortlichen-fuer-die-zukunft-gelernt.

Ein Jahr neues Missbrauchsgutachten – Was wurde auf den Weg gebracht? Weitere Informationen dazu finden Sie hier in einem Factsheet in zusammengefasst.