„Wir müssen handeln“

Kardinal Reinhard Marx eröffnet neuen Studiengang „Safeguarding of Minors“ an Gregoriana in Rom
Rom, 5. Oktober 2018. Angesichts der aktuellen Missbrauchsdebatte hat Kardinal Reinhard Marx ein entschiedenes Handeln der Kirche angekündigt. „Worte der Betroffenheit reichen nicht aus. Wir müssen handeln“, sagte der Erzbischof von München und Freising bei einer Pressekonferenz am Freitag, 5. Oktober, in Rom anlässlich der Eröffnung eines neuen Master-Studiengangs zum Kinderschutz an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Marx forderte eine umfassende Debatte über Themen und Strukturen, die im Zusammenhang mit Missbrauch neu beleuchtet werden müssten: „Eine ehrliche Diskussion wird sich vielen Fragen stellen müssen: Machtmissbrauch und Klerikalismus, Sexualität und Sexualmoral, Zölibat und Ausbildung der Priester, Hinwendung zu den Opfern, Bestrafung von Tätern und kirchenrechtliche Verfolgung von Missbrauchstaten.“
 
Das neue Ausbildungsprogramm „Safeguarding of Minors“ ist angesiedelt am Zentrum für Kinderschutz der Gregoriana (Centre for Child Protection CCP), das von Pater Hans Zollner SJ geleitet wird. Das Zentrum wurde im Januar 2012 von der Päpstlichen Universität Gregoriana, der Erzdiözese München und Freising sowie der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm gegründet. Während der dreijährigen Pilotphase von 2012 bis 2014 war der Sitz des Zentrums in München, zum Jahreswechsel 2014/2015 übersiedelte die Einrichtung nach Rom. Kardinal Marx hat bei der Eröffnung des neuen Studiengangs eine weitere, auch finanzielle Unterstützung des Zentrums durch die Erzdiözese München und Freising zugesagt. (ck)
 
 
 
Im Folgenden dokumentieren wir das Pressestatement in voller Länge:
 
Kardinal Reinhard Marx zur Eröffnung des Studiengangs „Safeguarding of Minors“ an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom am 5. Oktober 2018
 
„Viele Male schon haben die Bischöfe in Deutschland und in der Welt ihr Erschrecken und ihre Scham zum Ausdruck gebracht über immer neue Fälle sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt. Und in der Tat stehe auch ich fassungslos vor den abscheulichen Verbrechen, die insbesondere Priester, aber auch andere Mitarbeiter, im Schutz der Institution Katholische Kirche begangen haben. Aber ich sage es deutlich: Worte der Betroffenheit reichen nicht aus. Wir müssen handeln.
 
In Deutschland wurden im Jahr 2010 erstmals in großer Zahl Fälle sexuellen Missbrauchs bekannt. Das Erzbistum München und Freising stellte schon im Dezember 2010 eine eigene Untersuchung der Öffentlichkeit vor, bei der 13.200 Akten von einer unabhängigen Rechtsanwaltskanzlei ausgewertet worden waren. Die erschütternden Ergebnisse dieser Münchner Untersuchung wurden nun deutlich bestätigt durch eine wissenschaftliche Studie, welche die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hatte und die am 25. September bei der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vorgestellt wurde. Die Ergebnisse zeigen, so die Studie, dass „sexueller Missbrauch durch Priester von klerikal agierenden Kirchenoberen primär als Gefährdung der Institution und des klerikalen Systems wahrgenommen wurde“ und die „Sanktionierung der Taten und der Schutz der Betroffenen hinter das Interesse, Amt und System zu schützen“ zurücktrat. Die Forscher fassen diese Erklärung unter dem Begriff „Klerikalismus“ zusammen. Die Forscher stellten auch fest, dass bei manchen Klerikern ein spürbarer Widerstand hinsichtlich der Missbrauchsthematik zutage getreten sei, der die „Umsetzung von wirksamen Schutzkonzepten“ erschwert. In ihrem Resümee stellen die Forscher fest, dass es sich nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner handele, vielmehr sei das Augenmerk auf die für die katholische Kirche spezifischen Strukturmerkmale zu richten, durch die sexueller Missbrauch begünstigt und Prävention erschwert werden könnte. Systemische Aspekte seien auch der Grund dafür, dass das Risiko sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen innerhalb der katholischen Kirche fortbestehe. 
 
Man wird die systemischen und spezifisch katholischen Ursachen dieser unzähligen Verbrechen, welche die katholische Kirche auf der ganzen Welt, aber auch die Gesellschaften in den unterschiedlichen Kulturkreisen erschüttern, ohne jede Tabuisierung analysieren, diskutieren und beseitigen müssen. Um der Opfer willen und um der Kinder willen, die kirchliche Einrichtungen besuchen und besuchen werden. Die katholische Kirche hat viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren, es wird ein langer Weg, Vertrauen zurückzugewinnen. Eine ehrliche Diskussion wird sich vielen Fragen stellen müssen: Machtmissbrauch und Klerikalismus, Sexualität und Sexualmoral, Zölibat und Ausbildung der Priester, Hinwendung zu den Opfern, Bestrafung von Tätern und kirchenrechtliche Verfolgung von Missbrauchstaten. 
 
Ein Schlüssel im Kampf gegen sexuellen Missbrauch und körperliche Gewalt liegt in der Bildung und Ausbildung kirchlicher Mitarbeiter. Aus diesem Grund hat das Erzbistum München und Freising im Januar 2012 gemeinsam mit der Päpstlichen Universität Gregoriana und der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -therapie des Universitätsklinikums Ulm das Zentrum für Kinderschutz, „Centre for Child Protection“ (CCP), gegründet. Am CCP wurde unter anderem ein e-learning-Programm entwickelt, das weltweit in verschiedenen Sprachen zur Schulung eingesetzt wird und das im Erzbistum München und Freising alle Priester und Mitarbeiter, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, verpflichtend absolvieren müssen. 
 
Wenn wir heute hier den neuen, viersemestrigen interdisziplinären Master-Studiengang „Safeguarding of Minors“ eröffnen, so geht die Päpstliche Universität Gregoriana diesen Weg zu einem wissenschaftlich fundierten, professionellen Kinderschutz konsequent weiter. Das Angebot richtet sich an die Kinderschutzverantwortlichen im kirchlichen Bereich. Ich wünsche der Gregoriana viele Studenten auf diesem neuen Feld – ich wünsche mir, dass damit ein guter Beitrag dazu geleistet wird, dass Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen der Kirche einen besonderen Schutz genießen können.
 
Ich freue mich darüber, dass anlässlich der Eröffnung des neuen Studiengangs am morgigen Samstag, 6. Oktober, um 20.00 Uhr in der römischen Kirche St. Ignatius ein Musikstück uraufgeführt wird, das Missbrauchsopfern gewidmet ist. Die Erzdiözese München und Freising hat diese Komposition bei Konstantia Gourzi, Professorin für Neue Musik und Ensembleleitung an der Hochschule für Musik und Theater München, in Auftrag gegeben. Sie wird von sieben Instrumentalsolisten des Bayerischen Staatsorchesters, Herrenchor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper, vier Solo-Sängerinnen und zehn Tänzern aufgeführt.
 
Wie Sie wissen, hat diese Woche hier in Rom die Jugendsynode begonnen, an der auch ich teilnehme. Die versammelten Bischöfe müssen die jungen Menschen verstehen wollen und gemeinsam mit ihnen nach Antworten suchen. Wir müssen dabei auch auf unsere Sprache achten: Floskeln, dahergeredete Sätze, fromme Sprüche überzeugen nicht. Vielmehr muss die Kirche endlich wieder eine Sprache finden, die verstanden wird, in der wir glaubwürdig von Gott reden und ein erneuertes Bild der Kirche zeigen.
 
Es geht darum, neu zuzuhören und zu verstehen. Ich will mich daran messen lassen, ob ich wirklich zuhöre und verstehe und ob mein Reden und mein Handeln übereinstimmen. Dies gilt nicht nur, aber ganz besonders, im Kampf gegen den unerträglichen globalen Skandal des sexuellen Missbrauchs.“
 
Hinweis:
Weitere Informationen zum Zentrum für Kinderschutz und zur Eröffnung des Studiengangs unter http://childprotection.unigre.it/.