Ein Auffangnetz mit Herz bei Einsamkeit und Armut Das Freilassinger „Netzwerk der Nächstenliebe“ stößt bayernweit auf Interesse

Tiefe Einsamkeit im Alter, kein Dach über dem Kopf oder zu wenig Geld, um sich eine warme Mahlzeit leisten zu können. Die Gründe, warum Menschen in Not geraten, sind vielfältig. Im oberbayerischen Freilassing gibt es seit gut eineinhalb Jahren eine helfende Hand für Menschen in schwierigen oder sogar ausweglos erscheinenden Situationen: Das „Netzwerk der Nächstenliebe“.
 
Gruppe beim Netzwerktreffen „Bayern gemeinsam gegen Einsamkeit“ am 3. Juli 2025 im Bayerischen Landtag
Auftakttreffen des Netzwerks „Bayern gemeinsam gegen Einsamkeit“ am 3. Juli 2025 im Bayerischen Landtag
Die Einrichtung der Stadt Freilassing mit Unterstützung der katholischen Pfarrei St. Rupert kümmert sich um Bürgerinnen und Bürger, die in seelische oder finanzielle Nöte geraten sind.  Für kurzfristige finanzielle Hilfsleistungen steht sogar ein eigener „Sozialfonds Nächstenliebe Freilassing“ zur Verfügung. Er wurde in Zusammenarbeit mit der Bürgerstiftung der Sparkasse Berchtesgadener Land ins Leben gerufen und finanziert sich über Spenden und Zuwendungen.

Maßgeblicher Initiator der Netzwerk-Stiftung ist Diakon Peter Kleinert. In eindringlichen Worten schildert er beim Gespräch mit der Presse, wie ein besonderes Erlebnis die Initialzündung dafür gab, „dass wir etwas tun müssen“. Der ehemalige Banker fand selbst erst im reifen Alter ein neues Lebensziel als Diakon. Wie er erzählt, wurde er an einem kalten Winterabend auf dem Weg zu einem Treffen des Pfarrgemeinderats von zwei Obdachlosen angesprochen. Diese baten ihn, einem angeblich betrunkenen Kollegen zu helfen, der orientierungslos an einer Ecke des Pfarrsaals saß.

Kleinert nahm den Mann mit ins Pfarrbüro und versorgte ihn. Da der Obdachlose nur rumänisch sprach, schaltete er den Pidinger Pfarrer Ionel Anghel ein, der Übersetzungshilfe leistete. Dabei kam heraus, dass der Mann von Rumänien aus aufgebrochen war, um in Deutschland Geld für seine Familie zu verdienen. Auf der Reise wurde er allerdings ausgeraubt und musste deshalb auf der Straße leben. Über Salzburg kam er schließlich nach Freilassing, wo er von Jugendlichen attackiert und am Kopf verletzt wurde. Deshalb wirkte er anfangs auch betrunken und orientierungslos.

Wie Diakon Kleinert weitererzählt, ist das Beispiel des Obdachlosen aus Rumänien kein Einzelfall. Immer wieder klopfen Hilfsbedürftige im Pfarrbüro an und bitten um Essen, finanzielle Unterstützung oder Beratung in seelischen und emotionalen Notlagen. Ergänzend erfuhr Kleinert auch durch seinen Unterricht in Schulen von Kindern und Jugendlichen, die ohne Pausenbrot oder Schulhefte in den Unterricht kommen. In den Familien fehlte einfach das Geld dazu. „Dabei hat sich gezeigt, dass hilfsbedürftige Mitbürger oft mit vielen Problemen gleichzeitig konfrontiert sind. Dann ist eine Person oder Hilfsstelle allein oft zu wenig“, ergänzt der Geistliche.
 
Netzwerk-Initiator und Diakon Peter Kleinert vom Pfarrverband St. Rupert, Bernadette Hörmann (r.) und Rosemarie Heigermoser (l.)
Zusammen mit Initiator und Diakon Peter Kleinert (M.) vom Pfarrverband St. Rupert engagieren sich Bernadette Hörmann (r.) und Rosemarie Heigermoser für das „Netzwerk der Nächstenliebe"
In Gesprächen mit Lucjan Banko, Pfarrer im Pfarrverband St. Rupert, und Freilassings Bürgermeister Markus Hiebl wurde schließlich die Idee eines “Armutszirkels“ geboren, der sich für Hilfsbedürftige aller Art engagiert. Als erster Schritt wurde im Juli 2023 das Netzwerk der Nächstenliebe gegründet. Es hat die Aufgabe, zielgerichtet Ansprechpartner der verschiedenen Beratungsstellen und Einrichtungen für Hilfsbedürftige zu sammeln und zu vernetzen. Ebenso geht es darum, deren Aufgaben und Hilfsangebote in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Aufgabenfeld ist dabei in vier Bereiche unterteilt: Seelische Beratung, „ein Dach über dem Kopf“, „Essen und Lebensunterhalt“ sowie „Gemeinschaft erleben“. Inzwischen verfügt das Netzwerk bereits über knapp 80 Anlaufstellen.

Nach offizieller Zählung hat allein Diakon Kleinert bis Ende März diesen Jahres rund 70 Personen bei über 200 Kontakten betreut. Wie er anhand der Statistik aufzeigt, liegt die Armutsgefährdung auf dem Gebiet der Pfarrei St. Rupert in Freilassing mit 19,7 Prozent deutlich höher als im Dekanat Berchtesgadener Land oder in der Seelsorgeregion Süd der Erzdiözese München Freising.

Erst seit kurzem engagiert sich auch Rosemarie Heigermoser für das Netzwerk. Die ehemals stellvertretende Leiterin der Jobcenters in Bad Reichenhall weiß aus eigener Anschauung, wo viele Klienten der Schuh drückt. Inzwischen arbeitet die Ruheständlerin tatkräftig im Leitungsteam des Netzwerks der Nächstenliebe mit. „Durch das Netzwerk haben wir jetzt viele persönliche Ansprechpartner, wodurch sich viele Fälle schneller und unbürokratischer lösen lassen“, sagt sie. Die Hilfeleistung ist allerdings nur für Bürger aus Freilassing gedacht. Sie läuft nur kurzfristig und ist nicht mit staatlichen Sozialleistungen oder dem Bürgergeld zu vergleichen.

„Ergänzend zur Armutsfrage geht es uns speziell auch darum, Leute aus der Einsamkeit oder Vereinsamung zu holen“, ergänzt Bernadette Hörmann, ehrenamtliche Datenpflegerin im Netzwerk, im Gespräch. Nicht nur Senioren, sondern zunehmend auch junge Leute seien betroffen, wie sie sagt. Erst vor kurzem hat die Weltgesundheitsorganisation einen weltweiten Bericht über das Ausmaß und die dramatischen gesundheitlichen Folgen der Vereinsamung veröffentlicht.
 
Ein Mann und eine Frau arbeiten am Flipchart beim Auftakttreffen des Netzwerks „Bayern gemeinsam gegen Einsamkeit“ im Bayerischen Landtag
Arbeit beim Auftakttreffen des Netzwerks "„Bayern gemeinsam gegen Einsamkeit“
Überregional ist man ebenfalls schon auf das Netzwerk der Nächstenliebe aufmerksam geworden. Rosemarie Heigermoser vertrat die Freilassinger Initiative Anfang Juli 2025 bei einem Treffen im Bayerischen Landtag. Sozialministerin Ulrike Scharf stellte dort das neugegründete Netzwerk „Bayern gemeinsam gegen Einsamkeit“ vor. Es versammelte über 200 unterschiedliche Institutionen, Verbände, Initiativen, Vereine und Träger aus allen Regierungsbezirken, um Präventionsmaßnahmen gegen Einsamkeit zu stärken.

Davon betroffen sind vermehrt alte, aber auch immer mehr junge Menschen.  „Gerade für Bedürftige kann es auch hilfreich sein, sich ehrenamtlich in die Gemeinschaft einzubringen“, sagt Rosemarie Heigermoser. „Sich aktiv zu engagieren kann die Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl stärken anstatt sich als immer als Opfer zu fühlen, das nichts bewirken kann.“

Nähere Informationen gibt es unter www.naechstenliebe.freilassing.de.
 
Autor: Axel Effner, Freier Mitarbeiter, Juli 2025