Warum Wege der Trauer so unterschiedlich sind Interview mit Seelsorgerin Sonja Eichelbaum

Trauern – das bedeutet weitaus mehr als Traurigsein. Was bei diesem Prozess helfen, wie man mit Trauer leben lernen und welche Rolle der Glaube spielen kann, schildert eine Trauerseelsorgerin. Im Gespräch erklärt sie auch, warum es die angeblichen "Trauerphasen" so nicht gibt.
Außenansicht des Hauses am Ostfriedhof.
Das Haus am Ostfriedhof ist ein trauerpastorales Zentrum für Trauernde und Ratsuchende in München.
Sonja Eichelbaum leitet das Trauerpastorale Zentrum der Erzdiözese, das Haus am Ostfriedhof in München, das allen Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit offensteht. Doch was bedeutet Trauer eigentlich? Lässt sie sich überwinden? Und wie können andere dabei helfen? Wohlgemeinte Ratschläge können laut Sonja Eichelbaum jedenfalls ganz schön nach hinten losgehen.
 
Sonja Eichelbaum
Sonja Eichelbaum
Frau Eichelbaum, mit welchen Bedürfnissen kommen die Menschen in das Haus am Ostfriedhof?

Sonja Eichelbaum: Es gibt viele Fragen, die mit Orientierung zu tun haben: Wo finde ich das Krematorium, wo ist das Grab meines lieben Verstorbenen? Wie geht das jetzt mit der Trauerfeier? Was ist denn bei Ihnen hier möglich, seelsorglich oder auch in der Gastronomie? Das sind häufige Anfragen. In längeren Gesprächen kommt nicht selten die Frage auf: Was ist denn eigentlich Trauer? Wie soll ich die verstehen? Wie geht Trauer? Wann ist Trauer denn zu Ende? Ist das jetzt eigentlich noch normal, was ich da gerade erfahre, oder ist das schon ein Trauma? Oder jemand möchte einfach nur jemanden haben, der zuhört, bei dem er oder sie erzählen darf, weinen kann, weil das sonst nicht mehr so oft möglich ist. Einfach mal jemandem sagen dürfen, wie schwer es auch im Bekannten- und Familienkreis in der heutigen Zeit fällt, gut zu trauern. Dafür Raum zu haben.
 
Woran liegt das, dass es selbst im engsten Umfeld schwierig ist zu trauern?

Sonja Eichelbaum: Es sind verschiedene Faktoren. Wir sind globaler als früher. Früher war man im Dorf und in der Stadt enger beieinander. Die Lebenserwartung spielt eine Rolle, die früher wesentlich kürzer war. Man war automatisch viel öfter auch mit Tod, Trauer, Sterben konfrontiert. Wir erleben Tod und Sterben nicht mehr so häufig im direkten Umfeld und üben uns entsprechend auch nicht mehr im Umgang damit ein. Und damit ist es auch nicht mehr so notwendig, miteinander darüber in Kontakt zu kommen. Dazu kommt, dass die Gesellschaft erfolgsorientierter, schnelllebiger geworden ist. Lösungen sind schneller zu finden. 

Früher hatten wir auch einen stärker ritualisierten Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, etwa dass man im ersten Jahr Schwarz trägt. Das ist nicht als Vorwurf an die moderne Zeit zu verstehen, es ist eher eine Feststellung: Die Rahmenbedingungen, die Kultur, die Gesellschaft haben sich diesbezüglich komplett gewandelt. Wenn Rituale und gesetzte Umgangsformen immer weniger werden, sich in Auflösung befinden, dann stellt sich die Frage: Was könnte es denn dann sein, was den Menschen hilft?

Und was könnte helfen?

Sonja Eichelbaum: Ich glaube, dass wir generell gut daran täten, uns wieder mehr zuzuhören. Wir hören hier im Haus am Ostfriedhof oft: Ach, es hört mir mal jemand zu. Schön, dass mal jemand Zeit hat! Kostet das nichts? Auch diese Frage wird uns häufig gestellt, weil in unserer heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft alles etwas zu kosten hat. Und ja, unser Angebot hat einen Preis: Es kostet Zeit und es kostet die Kirche natürlich Personal. Aber beides stellen wir und stellt Kirche für die Menschen gern bereit. Das ist ein Grundauftrag von Kirche.
 
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"Früher hatten wir einen stärker ritualisierten Umgang mit Sterben, Tod und Trauer."
Sonja Eichelbaum, Leiterin des Trauerpastoralen Zentrums am Münchner Ostfriedhof
 
Sind das dann vor allem ältere Leute, die so glücklich sind, dass sie jemanden haben, der zuhört?

Sonja Eichelbaum: Das geht durch die Altersstufen. Verstärkt schon, sage ich mal mittleres Alter und älter, weil das im Normalfall auch die Menschen sind, die ihre betagten Eltern verloren haben. Aber natürlich erleben wir auch die Schicksale jüngerer Menschen. Menschen aller Altersstufen docken bei uns an.

Oft heißt es in dem Umfeld der trauernden Menschen schon nach kurzer Zeit: Jetzt ist aber auch mal gut, schau doch nach vorn. Man spürt die Hilflosigkeit in den Gesprächen. Das Umfeld ist auch oftmals überfordert in dieser schnelllebigen und erfolgsorientierten Zeit – und dann kommt noch der trauernde Mensch. Bei den Trauernden kommt dann an: Wen darf ich überhaupt belasten? Wer hält das aus, wer hält mich aus so wie ich jetzt bin? Und wenn ich’s dann mal tue, dann wird es schwierig.

Inwiefern?

Sonja Eichelbaum: Wir haben es nicht selten mit einer multiplen Trauersituation zu tun. Ich höre von den Trauernden im Gespräch oft: Ich verliere in meinem Umfeld Menschen nicht nur durch den Tod. Ich bin doppelt belastet, weil nicht nur ein mir lieber Mensch gestorben ist, sondern auch Freunde, die für mich da sein sollten, mich plötzlich nicht mehr verstehen. Ich muss mich distanzieren oder verabschieden, um mich zu schützen.

Dazu haben wir viele Gespräche. Auch dass Menschen dann, nach Jahren, merken: Ich weiß gar nicht, was los ist, jetzt kommt das wieder verstärkt bei mir hoch, dabei war der Trauerfall schon vor zehn Jahren.

Medial kommen schwierige Themen wie Trauer stärker zur Sprache. Wahrscheinlich haben viele schon einmal davon gehört, dass es Trauerphasen gibt. Hilft das oder macht das auch wieder Druck, funktionieren zu müssen?

Sonja Eichelbaum: Die Wissenschaft spricht nicht mehr von Trauerphasen, sondern mehr von individuellen Prozessen, von Diversität. Das ist ein Riesenunterschied. Ein Phasenmodell beinhaltet die Gefahr, Druck zu machen. Es suggeriert ein lineares Geschehen. Jetzt liegt die Betonung darauf, dass die Prozesse sehr unterschiedlich und individuell sind, und das bildet das Trauergeschehen wesentlich besser ab. Genau dem können wir hier auch begegnen. Viele sagen: Ich brauche mal ein Gegenüber, ich muss das erzählen können, meine Tränen und meine Trauer sollen mal gesehen werden.
 

Bloß keine vorschnellen Tipps


Wer kennt sie nicht, die wohlgemeinten Ratschläge der lieben Mitmenschen. "Das wird schon wieder", ist ein häufig geäußerter Satz, wie Sonja Eichelbaum in ihren Gesprächen mit Trauernden immer wieder feststellt. Sie gehe nie davon aus, dass es jemand schlecht meine, sagt die Leiterin des Hauses am Ostfriedhof, viele könnten es eben nicht besser. "Man klopft auf die Schulter oder sagt: Jetzt gibst du dir halt mal ein bisschen Zeit, das muss ja auch so sein." Oder: "Das wird schon wieder", "Halt durch". Aber, stellt die Seelsorgerin fest: "Was heißt denn das? Alles, was eng macht, hilft nicht."

Und wie macht man es nun besser? "Mein Ratschlag wäre: Wer einen Tipp gibt, sollte sich vorab einmal selbst fragen: Warum gebe ich diesen Tipp", empfiehlt Sonja Eichelbaum. Wichtig sei in jedem Fall, "dass man nicht in vorschnelle Ratschläge geht und damit in Dinge, die dem oder der anderen Druck machen. Dass man vielleicht mehr von sich her formuliert: Warum ist etwas in der Begleitung mir denn gerade nicht möglich, denn ich halte es nicht aus." Eines steht für Sonja Eichelbaum fest: "Das größte Geschenk, das wir in Trauerbegleitung machen können, ist, (aus-)halten und begleiten. Und eben nicht noch einmal jemand zu sein, der auch weggeht oder sich in ungute Tipps flüchtet."
 
 
Wie stark spielt denn die Religion eine Rolle? Das hier ist ein offenes Haus, aber es ist natürlich ein Haus der Erzdiözese.

Sonja Eichelbaum: Wenn wir Religiosität im weitesten Sinn fassen, also dass jemand zum Beispiel ein Licht anzündet als Zeichen der Hoffnung oder des Trostes, dann ist festzustellen, dass viele Lichter angezündet werden. Auch bei Führungen merkt man es, wenn Menschen sagen: Ach, das ist ja schön, Sie haben hier ein Ewiges Licht. Wir haben das nie als Ewiges Licht bezeichnet, aber das heißt: Da ist noch etwas gesetzt, das ruft etwas wach. In unserem Raum "Erinnerung und Wandel" gibt es ein kleines Lüftungsfenster. Immer wieder ist zu hören: Sie haben hier ein Seelenfenster, wie schön! Das dockt an frühere Erfahrungen an, als man sofort das Fenster aufgemacht hat, wenn jemand gestorben ist, damit die Seele entweichen kann. Da merkt man das. Und natürlich auch in Anfragen nach Trauerfeiern im weitesten Sinne, wenn wir gefragt werden, wie man Abschied und Erinnerung gut gestalten kann.

Ganz am Anfang hatten Sie gesagt, Sie würden oft gefragt werden, was Trauer denn eigentlich ist. Wie definieren Sie Trauer?

Sonja Eichelbaum: Neben den vielfältigen Definitionen spricht mich im Besonderen diese an: Trauer ist eine Reaktion auf Verlust. Und da stellen wir in den Gesprächen oft fest, dass es gar nicht nur um den Verlust eines Menschen geht. Das ist ein sehr weites Feld. Das kann Verlust von Heimat sein. Wir wissen es von den vielen geflohenen Menschen – auch denen aus früheren Kriegszeiten. Das kann Verlust von Identität sein, also: Wer bin ich dann jetzt noch? Das kann der Verlust eines Tieres sein oder auch der Verlust der Arbeitsstelle. Trauer ist ein sehr weiter Begriff, den wir vielleicht manchmal auch zu sehr einschränken. Im Einzelgespräch eruieren wir, was alles in die aktuelle Situation mit reinspielen könnte. Und eben auch in die Emotionswelt. Da heißt trauern nicht nur einfach: Ich bin traurig, ich weine, sondern auch: Ich bin verärgert, ich bin sauer, ich fühle mich hilflos. Alles Mögliche spielt in den Begriff Trauer mit hinein. Trauer ist ein Zustand und ein Prozess. Auch die Frage, wie trauere ich denn gerade: Ist das körperlich spürbar? Ressourcen sichten zu helfen, die bei der Trauerbewältigung hilfreich sein könnten: Das ist ebenfalls unsere Aufgabe in den Gesprächen. Ganz klar ist aber: Wir sind nicht das Fachpersonal für Therapie, wir sind Theologen, keine Psychologen. Wenn wir feststellen, dass eine andere Art von Begleitung und Hilfe nötig ist, dann verweisen wir entsprechend weiter. 

Und wie geht jetzt Trauer?

Sonja Eichelbaum:
Das ist etwas ganz Individuelles. Es gibt sicher Muster, die man miteinander anschauen kann und die hilfreich sind, und darüber hinaus sind Art und Dauer des Trauerprozesses komplett individuell. Der eine Mensch sagt, sie haben mir jetzt einmal zugehört, das hilft mir total, ich komme nun gut allein weiter, der andere sagt: Das ist jetzt der Anfang, ich merke, da tut sich gerade ein ganzes Fass auf bei mir. Da muss ich mal hinschauen, was ist das denn alles? Hätte ich gar nicht gedacht. Und dann begeben wir uns auf eine gemeinsame Suchbewegung. Ganz klar ist in der Trauerbegleitung: Wir sind nicht die die Wissenden, diejenigen, die den Trauernden sagen, wie der Weg der Trauer geht. Wir haben Hintergrundwissen, das ist aber etwas ganz anderes. Der betroffene Einzelmensch ist der Experte, mit dem wir zusammen auf dem Weg der Trauer im Gespräch weitergehen.
 
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"Trauer ist etwas ganz Individuelles."
Sonja Eichelbaum, Leiterin des Trauerpastoralen Zentrums am Münchner Ostfriedhof
Sie haben von Mustern gesprochen. Welche Muster zeichnen sich da ab?

Sonja Eichelbaum: Bei vielen Menschen ist es das häufige und oft spontane Weinen. Aber auch da gibt es etliche, die sagen: Ich bin kein Mensch, der weint. Ich verarbeite so nicht. Ein Muster könnte für viele auch der Rückzug sein oder auf der anderen Seite diejenigen, die extrem auf andere zugehen, ganz viel reden wollen. Die Trauerprozesse sind sehr individuell.

Ist Trauer eigentlich je vorbei?

Sonja Eichelbaum: Ich denke, es geht darum, mit der Trauer leben zu lernen. Vielleicht ist das die Chance der Zeit heute, dass wir uns einüben, mehr über Dinge sprechen zu können, zu schauen: Was brauche ich denn jetzt? Das war ja in früheren Generationen weniger die Frage, dieser Blick auf sich selbst. Der ist heute mehr geschult und kann uns helfen, den Tod ins Leben zu bringen. Heißt: Wie kann ich denn mit dem Blick auf mich neue Wege gehen lernen, gleichzeitig aber den lieben Menschen, den ich verloren habe, in meinem Leben jetzt Platz nehmen lassen.

Und was ist mit loslassen?

Sonja Eichelbaum: Früher hat man häufig gehört und gelesen: Du musst loslassen. Das ist heute nicht mehr so sehr im Vordergrund, sondern es geht mehr um die Frage der Integration. Wie integriere ich den Tod ins Leben? Kann ich mir schon ein Bild des oder der Verstorbenen aufstellen oder geht das noch nicht? Und möchte ich an Orte gehen, an denen ich mit dem oder der Verstorbenen war oder lasse ich das besser sein? Da schließt sich der Kreis zu den Ritualen. Ich denke, Trauer wandelt sich. Wenn jemand sagt, ich will davon heute nichts mehr wissen, ich will kein Bild, ich will rein gar nichts, dann ist das auch eine Form von Integration. Und, ein wichtiger Punkt: Sich die Erlaubnis geben zu trauern, sich von niemandem sagen lassen, wie lang der Prozess zu gehen hat. Der nächste Punkt ist dann zu schauen: Wo kippt es? Wo wird es etwas, das mir nicht mehr guttut. Den Tod ins Leben integrieren heißt: Ich gehe mein Leben weiter. Ich habe für mich einen neuen Weg gefunden und der mir liebe verstorbene Mensch hat dabei seinen Platz.

Sonja Eichelbaum ist Pastoralreferentin der Erzdiözese München und Freising. Sie leitet seit Juni 2024 das Haus am Ostfriedhof. Nach ihrem Diplomstudium der Katholischen Theologie in München war sie in verschiedenen Gebieten der Seelsorge tätig. Sonja Eichelbaum ist darüber hinaus eine der diözesanen Supervisorinnen.

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haus am ostfriedhof
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Leitung des Hauses: Sonja Eichelbaum