"Was wir jetzt erleben, wird für die Passion 2022 eine Rolle spielen" Interview mit Angelika Winterer, Seelsorgerin für die Oberammergauer Passionsspiele

Angelika Winterer ist Pastoralreferentin und kümmert sich im Pfarrverband Oberammergau um die pastorale Vorbereitung und Begleitung der Passionsspiele, die wegen der Coronakrise von 2020 auf 2022 verschoben werden mussten. Im Interview spricht sie über Trauer und Pragmatismus, die Pest von 1633 und neue Impulse für ihre Arbeit durch die Coronakrise.
Passionstheater Oberammergau
Das Passionstheater in Oberammergau
Frau Dr. Winterer, wie geht es den Oberammergauern?

Als im März die Passion abgesagt werden musste, war der Schock schon sehr, sehr groß. Für viele kam die Absage überraschend, sie hatten gerade noch geprobt oder Fotoaufnahmen für einen Bildband gemacht. Viele konnten es erst gar nicht fassen. An Ostern, als noch keine öffentlichen Gottesdienste möglich waren, haben wir deshalb die Passionsmusik vom Kirchturm aus gespielt, so dass sie das ganze Dorf hören konnte. Da waren viele sehr berührt, manche haben geweint.
Jetzt sind drei Monate vergangen, wir wären mitten in der Passion. Die Gedanken sind immer da: Wenn es kalt ist, sagen die Oberammergauer etwa, oh, heute hätte es uns aber gefroren auf der Bühne. Insgesamt hat sich die Trauer aber mittlerweile ein wenig gelegt und viele sehen es auch pragmatisch: Es ist ja nur verschoben, 2022 findet die Passion dann ja statt.

Sind alle so pragmatisch?


Generell lässt sich da, glaube ich, nichts verallgemeinern. Für die Älteren zum Beispiel ist es schon schwierig. Ich denke da etwa an eine 96-jährige Dame, die als älteste Mitwirkende noch auf der Bühne gestanden wäre, die weiß natürlich nicht, ob sie das in zwei Jahren noch kann. Eine andere ist 98, sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie die Passion überhaupt noch einmal erlebt, die Verwandten aus Amerika wären angereist und sie hat sich so gefreut. Daneben gibt es auch manche, bei denen die Passion in zwei Jahren nicht so gut in die Lebensplanung passt, die erst schauen müssen, ob sie sich mit Studium oder Beruf wieder unter einen Hut bringen lässt.
Und dann sind da die Leute, die jetzt in der Krise einfach andere Sorgen haben, die zum Beispiel eine Gaststätte oder Unterkunft betreiben und schauen müssen, wie sie durchkommen. Oder die für die Passion extra beruflich kürzergetreten sind und jetzt nicht so einfach wieder aufstocken können. Andererseits kenne ich auch eine Sängerin aus dem Chor, die sagt: Es ist schade, ich habe mich schon so gefreut, aber nun kann ich die Vorfreude eben gleich zweimal genießen.

Wie wird sich die Passion verändern durch diese Verschiebung?
Oberammergau
Die Passion prägt den ganzen Ort
Ich könnte mir vorstellen, dass es 2022 noch intensiver wird, nachdem alle gemeinsam durch dieses Tal gehen mussten. Man konnte den Geist der Passion ja schon atmen: wie die Leute zu den Proben aus dem ganzen Dorf auf das Passionstheater zugeströmt sind, die Gemeinschaft, die Stimmung auf der Bühne, in den Pausen. Dann dieses abrupte Ende, und gleichzeitig der Lockdown, in dem jeder erst einmal mit seinen Gefühlen und Gedanken allein war. Wenn es dann wieder losgeht, sind die Freude und Dankbarkeit vielleicht sogar umso größer.

Gibt es Ängste, dass die Passion auch in zwei Jahren nicht stattfinden kann?

Ich habe nicht den Eindruck. Der Zeitplan für die Aufführungen und die Proben steht bereits wieder, schon heuer im Herbst beginnt der Ticketverkauf. Es gibt auch die Zusage, dass jeder seine Rolle behalten kann. Der eine oder andere wird von seiner Lebensplanung oder vom Alter her vielleicht nicht dabei sein können. Dafür werden 2022 wohl manche mitmachen dürfen, die das 2020 noch nicht konnten: Man muss ja mindestens 20 Jahre in Oberammergau leben, um dabei sein zu dürfen.

Was bedeutet die Verschiebung für Ihre Arbeit?

Ich hoffe erst einmal, dass mein Einsatz als Seelsorgerin hier in Oberammergau entsprechend der Verschiebung der Passion um zwei Jahre verlängert wird. Sollte dem so sein, möchte ich freilich nicht einfach an meine bisherige Arbeit anknüpfen, sondern auch neue Akzente in der Vorbereitung auf die Passion setzen. Denn das Thema „Passion“ ist in dieser Krise ja noch mal viel näher an uns alle herangerückt, hat uns ganz persönlich und existenziell betroffen. Erleben zu müssen, wie von einem Moment auf den anderen nichts mehr so ist, wie es war, wahrzunehmen, wie brüchig das Leben ist und wie wenig wir Menschen letztlich doch in der Hand haben – natürlich kennt das jeder Einzelne punktuell aus seinem Leben. Aber dass plötzlich eine ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt so etwas miteinander durchmachen müssen, das ist neu, und das macht etwas mit den Menschen. Und das wird denen, die an der Passion beteiligt sind, sicher noch einmal neue Zugänge zu dieser Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi öffnen.

Im vergangenen Jahr wurde in Oberammergau die Entstehungsgeschichte der Passion aufgeführt.
Kreuz in der Oberammergauer Pfarrkirche
Die Oberammergauer setzen sich intensiv mit der Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi auseinander
Auch diese Geschichte bekommt eine ganz neue Bedeutung. Damals, 1632/33, wütete in Bayern die Pest, es gab Ausgangsbeschränkungen und Grenzschließungen. Nach Oberammergau durfte von außen niemand mehr herein. Und so blieb der Ort verschont – bis sich ein Tagelöhner aus dem Dorf nicht an die Regeln hielt und die Krankheit einschleppte.
Vor der Coronakrise hätte man es nie für möglich gehalten, dass es so eine Epidemie noch einmal geben kann – in früheren Zeiten, ja, oder in ärmeren Ländern, aber doch nicht bei uns. Jetzt dagegen weiß plötzlich jeder, wie das ist, wenn eine Seuche wütet. Und somit kann nun auch jeder viel besser nachempfinden, aus welcher Not das Oberammergauer Passionsspielgelübde erwachsen ist. Zudem gibt es eine Parallele zu 1920, als die Passion ebenfalls um zwei Jahre verschoben wurde, wegen der Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, aber auch wegen der Spanischen Grippe, die damals grassierte.

Die damalige Verschiebung konnte der Passion nichts anhaben. Tröstet das die Leute auch?

Ich denke schon. In der Geschichte der Passion gab es immer wieder Widrigkeiten, aber sie ging immer weiter. Diese einzigartige Kontinuität hat sicher auch mit dem eisernen Willen der Oberammergauer zu tun. „Der“ Passion, wie man hier sagt, gehört einfach zu Oberammergau. Das saugen die Leute schon mit der Muttermilch auf. Dafür brennen sie einfach. Wohl deshalb wird im Vorfeld auch nicht selten um alles Mögliche, was die Passion betrifft, leidenschaftlich gerungen. Am Ende ziehen dann aber immer alle an einem Strang und mobilisieren alle verfügbaren Kräfte.

Inwiefern spielt der Glaube eine Rolle?

Wer religiös ist, kann in Krisensituationen Halt in seinem Glauben finden, das gilt auch in der Coronakrise. Nun sind die Oberammergauer nicht unbedingt religiöser als die Menschen anderswo, aber sie setzen sich regelmäßig mit der Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi auseinander. Und nach der Coronakrise wird das der eine oder andere sicher noch mal mehr tun und neu und intensiver über seinen Text und seine Rolle nachdenken.
Was wir jetzt gemeinsam erleben, wird für die Passion 2022 daher bestimmt eine Rolle spielen, für Mitwirkende und Besucher. Schon heuer hat es mich bei den Proben mit Christian Stückl, bei denen ich dabei sein durfte, fasziniert, wie er die Botschaft der Passion ins Heute übersetzt, ihre Relevanz herausarbeitet. Da wird sicher noch mal viel passieren, wenn die Proben wieder beginnen.

Interview: Bettina Göbner

Seelsorgerin für die Passionsspiele

Nähere Informationen zu den Angeboten von Angelika Winterer sind auf der Homepage des Pfarrverbands Oberammergau zu finden