Im Mai 2020 wurde der Afro-Amerikaner Georg Floyd von einem weißen Polizisten getötet. In der Folge demonstrierten in den USA und weltweit Tausende unter dem Motto #blacklivesmatter. Auch in München. Der Täter von damals ist inzwischen wegen Mordes zu 22,5 Jahren Haft verurteilt.
Ein Jahr später gibt es zwar keine Anti-Rassismus-Demonstrationen mehr, die Diskussion aber geht weiter. Denn auch hierzulande klagen Menschen über Ausgrenzung und Diskriminierungen. Auch in unseren Kirchengemeinden.
Wir wollten wissen, wie Rassismus heute aussieht, was wir im Erzbistum München und Freising dagegen tun können und was sich seit den #blacklivesmatter-Demonstrationen verändert hat. Deshalb haben wir drei Menschen an einen virtuellen runden Tisch eingeladen, die sich täglich mit diesem Thema auseinandersetzen.
Kai Kallbach ist Leiter des Kompetenzzentrums für Demokratie und Menschenwürde der katholischen Kirche in Bayern. Die Freisinger Bischofskonferenz hatte im März 2018 beschlossen, an den bereits bestehenden Bildungseinrichtungen in Nürnberg und Freising ein Kompetenzzentren für Demokratiearbeit zu gründen. Seitdem bietet diese Bildungseinrichtung Workshop-Formate zu Rassismus an, die für das Thema sensibilisieren und Teilnehmende Strategien und Handlungsempfehlungen entwickeln lassen. Aktuell setzt sich im innovativen Projekt „Easy Target“ eine vielfältige Künstlergruppe mit den Ergebnissen von Anti-Rassismus-Workshops auseinander.
Dr. Martin Schneider, Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie Lehrbeauftragter an der Katholischen Stiftungshochschule München, Abteilung Benediktbeuern, beschäftigt sich spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 besonders intensiv mit dem Thema Rassismus. Als theologischer Grundsatzreferent des Diözesanrats der Katholiken in der Erzdiözese München und Freising förderte und begleitete er 2016 eine Studie des Instituts für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.
Dilbayeh Muschol ist Sprecher der äthiopisch-katholischen Gemeinde in München. Er erlebt Rassismus auf verschiedensten Ebenen: Für die äthiopisch-katholische Gemeinde ist er unter anderem Anlaufstelle, wenn die Mitglieder mit Alltagsrassismus, strukturellem und institutionellem Rassismus konfrontiert sind. Als staatlich geprüfter, vereidigter Übersetzer für seine Muttersprache kommt er ebenso häufig mit dem Thema in Berührung, wenn er mit Justiz, Polizei oder anderen Behörden zusammenarbeitet. Darüber hinaus ist er persönlich engagiert, macht auf das Thema aufmerksam, wo er kann, und versucht Menschen in seinem Umfeld für Rassismus zu sensibilisieren.
Herr Muschol, Sie gehören zu den Menschen, die im Zusammenhang mit Black Lives Matter als People of Color bezeichnet werden. Sie erleben nicht nur Rassismus in Ihrem persönlichen Alltag, sondern setzen sich auch professionell damit auseinander.
Muschol: Zunächst einmal würde ich den Begriff „People of Color“ kategorisch ablehnen, denn ich finde, er zementiert ein bereits vorhandenes Urteil bezüglich einer farbenbezogenen Identitätsstiftung.
Was würden Sie sich stattdessen wünschen?
Muschol: Wenn man mich irgendwie bezeichnen möchte, bin ich vielleicht mittlerweile auch ein Münchner, oder, wenn man es von meiner Herkunft richtig feststellen sollte, dann bin ich ein Afrikaner oder genauer ein Äthiopier.
Da haben wir also ungewollt schon das erste Beispiel geliefert. Wo sonst begegnen Sie Rassismus in Ihrem Alltag?
Muschol: Seit ich hier in Deutschland lebe – und das sind inzwischen mehr als 20 Jahre –, gehört Rassismus oder rassistische Diskriminierung zu meinem Leben dazu. Ich erlebe das täglich und überall, nicht immer offensichtlich, oft auch verdeckt und subtil. Sogar im Gottesdienst, beim Friedensgruß zum Beispiel: Wenn ich meine Hand ausstrecke und die Menschen mir ihre Hand nicht geben wollen oder sie ihre Hand sofort nach dem Gruß zurückziehen. Manchmal begegne ich auch einer Hand, die beim Händedruck sehr steif ist. Dann spüre ich den inneren Konflikt bei der Person. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe ich dieses Problem nicht mehr. Eigentlich ist diese ganze Situation zu bedauern, aber hier würde ich fast sagen: glücklicherweise.
Unabhängig davon ist es vielleicht ist es sinnvoll, zunächst einmal den Begriff Rassismus als solchen anzuschauen, um festzustellen, dass man es hier mit einem hochkomplexen und auch unübersichtlichen Phänomen zu tun hat.
Herr Kallbach, können Sie den Begriff Rassismus ein bisschen für uns aufschlüsseln?
Kallbach: Damit könnten wir eine ganze Tagung füllen, wenn wir den Begriff Rassismus wirklich mal in all seinen Facetten beleuchten wollten. Aber entscheidend scheint mir doch zu sein, dass wir es mit einer historisch gewachsenen Praxis zu tun haben, die durch Kategorisierung, Homogenisierung und Hierarchisierung rassifiziert. Auch ich erlebe in meinem Umfeld, dass Personen, die nicht weiß gelesen werden (Anm. der Redaktion: als nicht weiß wahrgenommen), permanent Rassismen verschiedenster Couleur ausgesetzt sind.
Herr Muschol hat gerade gesagt, dass Menschen teilweise in Angst verfallen, wenn sie ihm die Hand geben. Ich glaube, das ist ein wichtiger Aspekt: Nicht jede Person ist unmittelbar eine überzeugte Rassistin, aber die Denkformen sind so markant und so tief in unserem Denken und Fühlen verankert, dass wir immer wieder in rassistische Reaktionen zurückzufallen drohen, selbst wenn wir es nicht wollen. Deshalb bedarf es einer expliziten und offenen Auseinandersetzung mit dem Thema.
Muschol: Überhaupt erlebe ich die Diskussion vielfach so, dass man sehr auf der Suche nach einem Schuldigen ist. Das weist man dann natürlich von sich – und schon steht die Schuldfrage im Vordergrund. Ansonsten wäre es möglich, öffentlich zu diskutieren, selbst mit Menschen, die rassistische Positionen überzeugt vertreten.
Man weiß ja auch nie genau, wie jemand mit diesem Gedankengut in Berührung gekommen ist und woher er es übernommen hat. Ich finde es deswegen schade, dass das Thema sehr angstbehaftet ist und sofort skandalisiert wird, sobald jemand ein falsches Wort sagt. Da gibt es eine absolute Null-Fehler-Toleranz. Stattdessen sollten wir diskutieren, damit die Leute eine Chance haben, aus Fehlern zu lernen. Rassismus braucht Lernraum, Erfahrungsraum.
Kallbach: Rassismus hat auch nicht unbedingt etwas mit Absicht zu tun. Rassismus ist wesentlich vielfältiger. Obwohl es natürlich einen Unterschied macht, ob ich einen überzeugten Rechtsextremisten und Rassisten vor mir stehen habe oder eine Person, die wie wir alle rassistisch sozialisiert worden ist und sich aufgrund dieser Sozialisation in einer Situation rassistisch äußert.
Herr Dr. Schneider, in den 1980er Jahren hat Papst Johannes Paul II. bereits festgestellt, dass Rassismus der Botschaft Christi widerspricht. Danach dürfte es Rassismus unter Katholiken gar nicht geben, oder?
Schneider: Die „Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ hat 2016 ergeben, dass Rassismus unter Katholiken nicht weniger verbreitet ist. Das hängt klar damit zusammen, dass es um Wahrnehmungsmuster geht, die wiederum mit Identitätskonzepten zusammenhängen. Dabei grenze ich meine eigene Identität ab von anderen Identitäten und teile Menschen dadurch in Gruppen ein. Diese Denkmuster sind auch unter Katholiken sehr verbreitet, obwohl wir von einem Menschenbild ausgehen, bei dem das keine Rolle spielen dürfte. Im Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie gilt für alle, darf an keine Bedingungen geknüpft werden. Das gilt für Christen natürlich umso mehr, weil wir von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen ausgehen, also von der Gleichheit aller Menschen. Genau das meinte Johannes Paul II. In der Kirche haben wir eventuell eine größere Offenheit bei Repräsentanten und Bildungsträgern, sich dieser Thematik jetzt anzunehmen. Hier könnten wir eine Vorbildrolle einnehmen.
Kallbach: Da gibt es noch einen Aspekt, den ich gerne einbringen würde, wenn wir über den Widerspruch zwischen dem Universalismus des Christentums und dem rassistischen Denken sprechen: Rassistische Denkmuster erfüllen bis heute eine ganz wichtige legitimatorische Funktion. Das ist ein Gedanke von Frantz Fanon, dem französischen Theoretiker, der sagt, dass Rassismus immer eine subjektive und eine objektive Seite hat. Die subjektive Ebene kann man mit Workshops sehr gut adressieren. Aber es gibt immer noch bestimmte objektive, gesellschaftliche Verhältnisse, die Rassismus hervorrufen und die den Rassismus brauchen, um legitim zu wirken. Wenn wir zum Beispiel anschauen, wie wir mit Menschen an der europäischen Grenze umgehen, dann würde ich die These wagen, dass es wahrscheinlich schwieriger auszuhalten wäre, die Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, wenn es keine rassistischen Denkmuster gäbe, die das in irgendeiner Weise für eine mehrheitsweiße Gesellschaft erträglich erscheinen lassen.
Herr Muschol, erkennen Sie im kirchlichen Umfeld eine stärkere Bereitschaft, an Rassismus zu arbeiten?
Muschol: Jein. Im Rahmen der Erwachsenenbildung gibt es zum Beispiel die Domberg-Akademie mit dem Zentrum für Demokratie und Menschenwürde. Das ist eine wunderbare Einrichtung, das sollte gefördert und ausgebaut werden. Andererseits nehmen an Veranstaltungen dort nur Personen teil, die sowieso überreflektiert sind und sich ohnehin damit beschäftigen. Ich finde, da könnte schon sehr viel mehr passieren. Es gibt zum Beispiel keine Verpflichtung für Mitarbeitende der Kirche, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Ich hatte das Glück, hier an der LMU an der katholischen Fakultät zu studieren, und bin jetzt gerade auch an der katholischen Stiftungshochschule eingeschrieben. Das Thema „Rassismus“ habe ich an beiden Hochschulen nie gesehen. Angehende Theologen und Theologinnen und Lehrkräfte und vor allem Sozialarbeiter und -arbeiterinnen müssten schon sensibilisiert werden.
Man sieht: Wenn etwas in Amerika passiert, ist die Betroffenheit groß. Aber sich mit dem Thema dann hier und jetzt auseinanderzusetzen, da ist die Bereitschaft sehr gering. Immer noch, leider.
Herr Kallbach, hat #blacklivesmatter etwas daran geändert?
Kallbach: Insgesamt hat die #blacklivesmatter-Bewegung schon erheblich dazu beigetragen, dass das Thema verstärkt angeboten und auch nachgefragt wird. Nicht nur wir, auch weitere katholische Bildungseinrichtungen greifen es auf. Gleichzeitig gibt es die Abteilung Weltkirche im Ordinariat des Erzbistums München und Freising, die sich auch für Vielfalt engagiert. Und es gibt immer wieder Projekte, die die katholische Kirche fördert, zum Beispiel „Den Menschen im Blick“. Das war ein Projekt an der politikwissenschaftlichen Fakultät der LMU, bei dem es darum ging, wie man Rassismus im beruflichen und privaten Kontext bekämpfen kann. Aber ich würde Herrn Muschol dennoch recht geben, dass es da noch einiges an Handlungspotenzial gibt, das noch nicht mobilisiert worden ist.
Schneider: Die Angebote, die über die Bildungsträger gemacht werden und über das Erzbischöfliche Ordinariat, sind das eine. Dadurch kommen Leute hinzu, die sich weiterqualifizieren und -bilden. Als Sozialethiker bin ich aber der Meinung, dass wir neben diesen guten Angeboten so etwas wie Solidarisierungsbewegungen brauchen. #blacklivesmatter ist so eine gewesen. Welche katholischen Verbände gibt es also, die aus sich heraus das Thema setzen?
In den Jugendverbänden sehe ich verstärkt ein politisches Bewusstsein. Im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) der Erzdiözese München und Freising zum Beispiel habe ich in den vergangenen Jahren äußerst Positives erlebt. Die wurden auch schon für Preise nominiert. (Anm. der Redaktion: Nominierung für den Deutschen Engagementpreis für das Filmprojekt „Mut zum Kreuz“ anlässlich der Bayerischen Landtagswahlen 2018)
Hier braucht sich die Jugendverbandsarbeit nicht zu verstecken. Verbände wie der BDKJ, die Christliche Arbeiterjugend oder die Katholische Landjugendbewegung sind im Grunde sehr offen. Diese Gruppen haben gelernt, politisch zu denken. Leider spielen sie in der kirchlichen Landschaft immer weniger eine Rolle. Sie müssten wieder stärker in den Vordergrund. Ich denke auch an die Ministrantenarbeit. Wir haben in der Erzdiözese München und Freising einen Ministrantenverband, der immer diverser wird.
Ich merke das in meiner eigenen Pfarrei, wo ich äußerst positiv wahrnehme, wie divers die Ministrantinnen und Ministranten sind, nicht nur männlich und weiblich, sondern auch aus unterschiedlichen Kulturen und Ländern. Innerhalb des Ministrantenverbands gibt es eine starke Bewusstseinsbildung für das, was passiert. Es wird reflektiert und auch verstärkt.
Was könnten wir im Erzbistum München und Freising noch mehr tun?
Muschol: Auf individueller Ebene sollte jeder und jede erst einmal die Tatsache anerkennen, dass es Rassismus gibt, und diese Debatte aushalten. Das wäre ein großer Schritt.
Dann wäre es mein Herzensanliegen, dass Würdenträger in der Kirche sich dieses Themas annehmen. Und zwar systematisch und strukturell, bis hin zum Gebet im Gottesdienst. Rassismus hat eine jahrhundertelange Tradition. Man kann ihn nicht mit einer netten PR-Aktion aus den Köpfen der Menschen schaffen. Der Kampf gegen Rassismus ist langatmig, und man sollte entschieden und strukturiert vorgehen. Mit Emotionen kommen wir nicht weiter.
Kallbach: Wie Herr Muschol schon angedeutet hat, sollte die Kirche erst einmal ein Raum sein, in dem wir Menschen zuhören, die selbst diskriminierende oder rassistische Erfahrungen gemacht haben. Dazu sollte man sich auf verschiedenen Ebenen bekennen.
Außerdem ist die katholische Kirche wirklich ein großer Player, der einiges an Potenzial für eine antirassistische Arbeit aufweist. Man könnte zum Beispiel noch stärker in die Bildungseinrichtungen gehen: Kindergärten, katholische Schulen, aber auch Altenheime, wo Antirassismusarbeit und demokratische Erziehung noch viel stärker stattfinden könnten. Aber es gibt auch Bereiche, wo die katholische Kirche konkrete Maßnahmen ergreifen kann, um Menschen, die von Rassismen betroffen sind, zu unterstützen. Insbesondere sollten Menschen mit Migrationserfahrung noch viel stärker auf allen Ebenen in der Kirche eingebunden werden, zum Beispiel in Gremien.
Schneider: Wir müssen auch stärker schauen: In welchen Kontexten erreichen wir als katholische Kirche, als Träger sozialer Einrichtungen heute noch divers zusammengesetzte Bevölkerungsschichten? In den kirchlichen Gemeinden haben wir mittlerweile ein relativ stark eingeschränktes Milieu. Ich persönlich habe für mich entdeckt, dass der Sportbereich das ideale Feld ist. Hier haben wir mit dem DJK-Sportverband einen starken katholischen Verband. Das ist nicht die Lösung für alle Konflikte. Aber der DJK könnte hier vorbildlich vorgehen. Wenn im Sport die Abgrenzung nicht zunimmt, sondern es dort gelingt zusammenzurücken, dann haben wir gesellschaftlich viel erreicht.
Statement von Weihbischof Rupert Graf zu Stolberg