Predigt von Erzbischof Dr. Reinhard Marx am Pfingstsonntag, 11. Mai 2008, im Münchner Liebfrauendom


1. Lesung: Apg 2,1-11
2. Lesung: 1 Kor 12,3b-7.12-13
Evangelium: Joh 20, 19-23




Liebe Schwestern und Brüder,

fast fünfzig Jahre ist es her, dass Papst Johannes XXIII. sein Pontifikat begonnen hat und dann sehr bald auch – wie Sie wissen – das Zweite Vatikanische Konzil ausgerufen und dazu eingeladen hat, dass die Kirche sich neu auf den Weg macht. Er hat einmal gesagt: Ich erhoffe und erwarte ein neues Pfingsten für die Kirche!

I.
Wenn wir auf die letzten fünfzig Jahre schauen, fragen wir uns: Ist diese Hoffnung des seligen Papstes Johannes XXIII. eingetroffen? Ist ein neues Pfingsten in der Kirche aufgebrochen? Wir stellen dann fest, dass Pfingsten immer wieder geschehen muss. Pfingsten ist kein Tag der Vergangenheit, Pfingsten ist heute, je heute – immer wieder neu. Aber wir dürfen auch dankbar sagen, dass das, was dieser selige, großartige Papst in Gang gebracht hat, tatsächlich Früchte getragen hat, vielleicht manche, die unerwartet waren. Es gab auch Umbrüche und Veränderungen, die verstörend und für manche schwer zu verstehen und zu akzeptieren waren. Nicht alles, was in den letzten fünfzig Jahren in der Kirche geschehen ist, ist vom Heiligen Geist inspiriert - wer wollte das bezweifeln? Die Kirche bleibt Sünderin und ist gleichzeitig Sakrament des Heiligen Geistes. Und so gilt es immer wieder neu, auf die Geschichte und Gegenwart der Kirche zu schauen, überall da, wo Kirche lebendig ist, um zu entdecken, wo Pfingsten aufbricht, wo der Heilige Geist uns neu in den Weg hineinführt, den Jesus uns gewiesen hat. Und auch darauf, wo andere Mächte und Kräfte uns von diesem Weg abbringen und verwirren wollen.

Liebe Schwestern und Brüder, das Zweite Vatikanische Konzil war ein großes pfingstliches Ereignis für die Kirche. Wir spüren es bis heute. Aber nicht immer sind wir auf dem Niveau dessen geblieben, was uns dieses Konzil, die Versammlung in Rom damals von 1962 bis 1965 in den großartigen Dokumenten mit auf den Weg gegeben hat. Wer kennt sie noch? Manchmal bin ich erstaunt, wie wenig die große geistliche Kraft dieser Dokumente, die im Gebet und im Nachdenken erarbeitet wurden, bei uns Wurzeln geschlagen haben. So könnten wir sagen: die große Erwartung, die Vision Papst Johannes XXIII. ist immer noch Auftrag. Wir merken: Die Kirche kann Pfingsten nur erleben, kann nur dann immer wieder neu in den Weg Jesu hineinkommen, wenn sie sich zum Gebet versammelt, wenn sie sich für den öffnet, der uns diesen Weg weisen kann, der die Quelle der Kraft ist – und das ist der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht. Und diejenigen haben nicht Recht – so meine ich – die sagen: in der Kirche muss alles bleiben, wie es ist, wir halten alles fest. Und genauso wenig haben jene Recht, die meinen, die Kirche könne einfach wie auf einem Reißbrett geplant werden, wie eine Organisation, wie ein Unternehmen. Wir fangen beim Punkt Null an und phantasieren eine Kirche, die wir gerne möchten. Beides, liebe Schwestern und Brüder, ist lebensfremd und auch dem Evangelium fremd. Die Kirche ist eine Kirche auf dem Weg. Sie geht immer neu den Weg von Pfingsten. Sie geht immer neu den Weg Jesu in der Kraft des Heiligen Geistes und hat immer neu die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten und sich dann aufzumachen und sich aufwecken zu lassen, nicht einzuschlafen, nicht rückwärts zu schauen, sondern nach vorne, wo uns der Herr entgegenkommt mit seinen Verheißungen, daran zu glauben, dass in der Kraft des Heiligen Geistes der Herr in unserer Mitte ist.

Das gilt auch für unser Erzbistum, das gilt für alle Teilkirchen und Ortskirchen und Gemeinschaften. Die Kirche ist nicht zuerst eine Organisation, sondern die Kirche ist die Versammlung des Volkes Gottes, sie ist die Kreatur, das Geschöpf des Heiligen Geistes. So sagt es das Zweite Vatikanische Konzil: die Kirche ist Sakrament des Reiches Gottes, geschaffen vom Heiligen Geist. Und nur, wenn wir uns dafür bereiten, wenn wir uns offen halten, wenn wir dem Heiligen Geist eine Chance geben, dann werden wir auch Strukturen, Organisationsformen, neue Wege finden, die wir gehen können in der Katechese, in der Seelsorge, neue Chancen der Zusammenarbeit finden, neue Möglichkeiten entdecken. Nicht, wenn wir nur planen, sondern wenn wir den Heiligen Geist bitten, dass er uns die Augen öffnet für die Zeichen der Zeit. Ihn darum bitten, dass wir sie im Licht des Evangeliums und im Licht der großen Glaubenstradition der katholischen Kirche lesen, besonders auch im Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil, dieses pfingstliche Ereignis des 20. Jahrhunderts, das auch für das 21. Jahrhundert für uns Richtschnur ist. Bei jeder Erneuerung der Kirche, bei jedem Neuaufbruch haben wir uns zu vergewissern, von dieser geistlichen Erfahrung her zu denken.


II.
Das, was uns heute am Pfingstfest gesagt wird, zeigt uns, wie das gehen kann und welche Wege uns erschlossen werden. Die Jünger sind versammelt. Wir hören es in der Apostelgeschichte. Sie sind noch ganz verängstigt. Sie haben noch nicht ganz verstanden in der Kraft des Geistes, was dieses Zeichen des Kreuzes zu bedeuten hat. Dass ihr Herr und Messias an den Galgen gehängt wird, hingerichtet wird mit der schändlichsten Strafe, die sich die antike Welt ausgedacht hat. Wie sollten sie das verstehen? Wie konnten sie begreifen, was das bedeutet? Nur von Gott her konnten sie es verstehen. Der Heilige Geist macht ihnen klar, die Kraft des Geistes macht ihnen deutlich: dieser Christus, der aufgehängt am Kreuze gestorben ist, ist der Sohn Gottes. In ihm ist das Leben. In ihm hat Gott sich an die Welt verschenkt. Das zu glauben, ist die wichtigste Gabe des Heiligen Geistes.

Und damit beginnt auch immer wieder die Erneuerung der Kirche. Wir haben es in der 2. Lesung gehört: Die Grundlage jeder Erneuerung, auch jeder strukturellen Veränderung, jeder Neuorientierung in einer Pfarrei, jeder Zielorientierung – was sollen wir tun? was sollen wir hoffen? wie können wir als Christen heute leben? – beginnt bei diesem Grundakt. Und dieser Grundakt ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Niemand kann sagen: Jesus Christus ist der Herr, wenn er nicht vom Heiligen Geist beschenkt und gestärkt wurde. Im Heiligen Geiste ist unser Glaube das große Geschenk unseres Lebens, indem wir sagen: Herr ist Jesus Christus. Das heißt für unsere Aufbruchüberlegungen, für unseren immer je neuen Weg von Pfingsten her: es beginnt mit Christus. Wo der Glaube an Christus nicht in der Mitte eines Bistums steht, einer Pfarrei, einer Gemeinschaft, wo er nicht – so dürfte ich fast sagen – wirklich die absolute Priorität hat oder menschlich gesprochen „der eigentliche Chef“ ist, da kann auch der Weg nicht gefunden werden in einer neuen Herausforderung, wie wir heute unter neuen Bedingungen Kirche sein können. Aber das ist eine Gabe des Heiligen Geistes, eine Frucht des Gebetes, des gemeinsamen Zusammenkommens. Das wird nicht in stundenlangen Planungssitzungen geschenkt, sondern zunächst dann geschenkt, wenn wir uns intensiv einmütig zum Gebet versammeln und Christus in die Mitte stellen, ihn anbeten und von ihm hören, was er uns heute zu sagen hat. Und das geschieht in der Gemeinschaft der ganzen Kirche, nicht isoliert jeder für sich, nicht jede Pfarrei, nicht jedes Bistum für sich, sondern verbunden in der Gemeinschaft der ganzen Kirche.

Wir spüren, liebe Schwestern und Brüder, dass die Kirche eine personale Größe ist. Wir können sagen, die Kirche denkt von personalen Vorstellungen her. Leib Christi – wir haben es eben gehört! Der Heilige Geist macht die Kirche zum Leib Christi, zu einer in Christus geeinten Gemeinschaft. Die Strukturen sind die Folge, aber der Ursprung ist personale, persönliche Beziehung, Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Wenn das nicht gegeben ist und verstärkt wird im Gebet und in der gemeinsamen Feier der Eucharistie, dann können wir uns zwar beraten, dann können wir alle möglichen Überlegungen anstellen, aber sie werden in die Irre führen, sie führen nicht weiter. Sie führen nicht zum Aufbruch, sondern zu Engstirnigkeit, zum Egoismus oder zu falschen Phantasien. Wir brauchen diese Gemeinschaft im Glauben, in der Christus in der Mitte steht, in der wir uns verbinden mit der gesamten Kirche, der Kirche aller Zeiten.


III.
Wir hören in der Apostelgeschichte, welche Wirkungen das hat, die wir auch für heute erbitten, für unsere Zeitstunde, für unser Erzbistum. Die Apostel verlieren zusammen mit Maria in der Kraft des Geistes ihre Angst. Manchmal werde ich gefragt: Herr Bischof, haben Sie für die Kirche keine Angst vor der Zukunft? Angst, liebe Schwestern und Brüder, das wäre ja der nackte Unglaube. Angst? Hat uns Jesus etwa verlassen? Er geht mitten unter uns den Weg der Kirche mit, in der Kraft seines Geistes und er wird uns die Wege zeigen, wenn wir uns zum Gebet versammeln, wenn wir ganz auf ihn hören, ihn anbeten, von ihm her denken, seinen Auftrag, seine Sendung verstehen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20, 21). So haben wir es eben im österlich-pfingstlichen Evangelium gehört. Und die Wirkungen sind dann sehr spürbar. Die Apostel verlieren ihre Angst. Sie machen die Fenster auf, sie gehen nach draußen und verkünden: ja, der, den ihr an den Galgen gehängt habt, dieser Jesus, ihn hat Gott auferweckt und zu seiner Rechten erhoben. Die Angst ist vertrieben. Das ist eine erste Erkenntnis, wenn wir wirklich vom Geist Gottes erfüllt sind, wenn wir uns von ihm erfüllen lassen, dann haben wir keine Angst vor der Zukunft. Wir glauben vielmehr, dass diese Zukunft uns geschenkt ist als Gestaltungsaufgabe und dass uns der Herr niemals verlässt, dass wir nie allein sind, dass er immer mit uns geht und Wege weist, wie wir heute Kirche sein können.

Liebe Schwestern und Brüder, so wird gerade an der Apostelgeschichte, am pfingstlichen Ereignis etwas von dem deutlich, was immer neu in der Kirche geschehen soll, immer neu an pfingstlichem Aufbruch: das Ablegen der Angst und das Zeugnis nach Außen. Wir könnten sagen, der Weg nach Innen ist wichtig, in die geistliche Erneuerung, ins Gebet hinein, in die Feier der Eucharistie, in die Gemeinschaft der ganzen Kirche und dann auch von daher der Weg nach Außen, ins Zeugnis, in die Evangelisierung, in den Neuaufbruch, auch in einer modernen Gesellschaft Kirche zu sein, Kirche anziehend zu gestalten, so dass Menschen entdecken: der Glaube ist ein großer Schatz, ist eine große Einladung, eine Lebensbereicherung.


IV.
Deswegen wollen wir in den nächsten zwei Jahren, liebe Schwestern und Brüder, auch in unseren Pfarreien über diese Zukunft nachdenken, nicht indem wir ängstlich versuchen, irgendetwas zu organisieren, damit es nicht ganz so schlimm wird, sondern wirklich mutig den Auftrag Jesu aus dem heutigen Pfingstevangelium für uns im Erzbistum aufgreifen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ (Joh 20, 21). Wir wollen diesen Weg nennen: Dem Glauben Zukunft geben. Wir könnten auch sagen: dem Heiligen Geist eine Chance geben, ihn wirken lassen, dass er unser Wirken mit seinem Wirken unterstützt und stärkt und ausrichtet.

Mein Vorgänger Kardinal Wetter hat zusammen mit seinen Mitarbeitern in den letzten Jahren schon den Weg vorbereitet, auch und gerade für die Erneuerung in den Pfarreien. Heute ist zwar erst mein 100. Tag als Ihr Erzbischof – eine recht kurze Zeit für einen Bischof -, aber dennoch meine ich gerade im Gespräch mit den vielen, die den Weg der letzten Jahre im Erzbistum mitgegangen sind, dass jetzt die Stunde ist, dass wir diesen vorbereiteten Weg nun auch von Pfingsten her geistlich vertiefen und dass wir uns gemeinsam noch intensiver auf den Weg machen können. Ich möchte, dass auch in den Pfarreien, Gruppen, Ordensgemeinschaften, Verbänden und Bewegungen über diesen Weg gesprochen wird. Nicht nur Diskussionen, wie: „Was behalten wir? Hauptsache uns geht’s gut, die Nachbarn gehen uns nichts an.“ Sondern, liebe Schwestern und Brüder, dass wir uns geistlich auf den Weg machen mit der Frage: Was will uns der Herr in dieser Zeitstunde sagen? Bitten wir gemeinsam, einmütig und offen um den Heiligen Geist, dann werden uns auch Wege gezeigt, wie wir heute kraftvoll und überzeugend Kirche sein können.

Dieses Projekt „Dem Glauben Zukunft geben“ soll in den nächsten Wochen vorgestellt werden. Ich möchte, dass im Laufe des Jahres auch ein Verfahren der Beteiligung vieler in Gang kommt, ein Zukunftsforum, ein Gestaltungsprozess, in dem die Gläubigen, die Gemeinden, die Priester ihre Beiträge, ihre Ideen mit einbringen können. Es geht darum, in der Einmütigkeit der Kirche von Pfingsten nicht nur über Strukturen zu streiten, sondern, dass wir uns zunächst gemeinsam der Frage stellen: Kann uns ein neues Pfingsten geschenkt werden? Die Frage, die Papst Johannes XXIII. 1959 gestellt hat, bevor er das Zweite Vatikanische Konzil auf den Weg gebracht hat, und die er für sich klar beantwortet hat: Ein neues Pfingsten ist möglich! Natürlich ist es möglich. Aber wir müssen, wie in der Apostelgeschichte, einmütig im Gebet versammelt sein und Christus sprechen lassen, nicht nur uns selber sehen, nicht nur unsere eigenen Ideen, nicht nur unsere eigenen Interessen pflegen, weder die Interessen des Bischofs, noch der Pfarreien, noch irgendjemandes sonst, sondern seine Interessen in den Blick nehmen: Was ist sein Interesse? Wie können wir den Auftrag Jesu heute leben: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch! Das, liebe Schwestern und Brüder, kann uns nur geschenkt werden in der Gemeinsamkeit und Einmütigkeit des Gebetes, wenn wir wie die Apostel versammelt sind mit Maria, der Mutter des Herrn.

Ich hoffe, dass dann dieser Weg einen ersten Abschluss finden kann in den nächsten beiden Jahren, so dass wir uns für die nächsten Jahre neu auf den Weg machen können, mit den Zielen, die der Kirche vom Herrn selbst gestellt sind und den Wegen, die uns der Herr schenkt, auch in der Aufgabe, unsere Pfarreien und Gemeinschaften neu miteinander zu verbinden und neu auf den Weg zu bringen. Bitten wir darum, gerade heute am Pfingstfest, dass uns dieser Weg vom Heiligen Geist her geschenkt wird.

Komm Heiliger Geist, erfülle die Herzen der Gläubigen im Erzbistum München und Freising und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe. Amen.

(Der Charakter der freien Rede in der Predigt wurde beibehalten.)
Predigt zum Pfingstfest 2008 von Erzbischof Marx im Wortlaut zum Anhören (MP3, 5,9 MB)