"Vielen konnten wir weiterhelfen" Interview mit Dr. Elisabeth Dreyßig von der Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising

Dr. Elisabeth Dreyßig von der Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising spricht im Interview über die Unterstützungsangebote und ihre Erfahrungen aus Gesprächen mit Betroffenen.
 
Elisabeth Dreyßig von der Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising
Dr. Elisabeth Dreyßig
Warum wurde die Anlauf- und Beratungsstelle der Erzdiözese für Betroffene von sexuellem Missbrauch eingerichtet? Hatte das mit der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens vom 20. Januar 2022 zu tun?

Dr. Elisabeth Dreyßig:
Ja, das hatte es. Es war geplant, dass ab dem Datum der Veröffentlichung des Gutachtens eine Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch bereitsteht. Die Vorbereitungen dafür fanden bereits im Herbst 2021 statt. Wir waren vier ehemalige Leiterinnen und Leiter von Stellen der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in der Erzdiözese, die eigentlich schon im Ruhestand sind. Dazu kamen noch zwei aktive Stellenleitungen im Stand By-Modus, falls wir es nicht geschafft hätten, den Ansturm der Anrufe zu bewältigen.

Wir alle haben die Ehe-, Familien- und Lebensberatungsausbildung absolviert und sind mehrheitlich Diplompsychologinnen und -psychologen. Auch ein psychologischer Psychotherapeut ist dabei. Das gesamte Team hat eine lange Erfahrung in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung sowie im Umgang mit Traumata und auch mit dem Thema Missbrauch.

Welche Personen haben bei Ihnen angerufen?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Bis zum 1. Juli haben sich insgesamt 223 Personen gemeldet, davon waren 139 Männer und 84 Frauen. Unter ihnen gab es 93 Betroffene von sexuellem Missbrauch und sechs Angehörige. Rund 60 Prozent aller Anruferinnen und Anrufer waren älter als 60 Jahre.
 
Grafik mit den Angeboten für Betroffene sexueller Gewalt
Angebote im Erzbistum für Betroffene sexuellen Missbrauchs
Konnten Sie diesen Menschen weiterhelfen?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Den meisten konnten wir weiterhelfen. Einmal, indem wir sehr offen waren und ohne Vorbehalte und im Bewusstsein unserer Schweigepflicht zugehört haben. Manchen haben wir ganz praktische Informationen weitergegeben, etwa wie psychotherapeutische Hilfe zu erlangen ist oder an wen sich Menschen in Notsituationen wenden können. Wir haben auch darüber informiert, wie man die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Antragsstellung für die finanzielle Anerkennung des Leids erreicht. Mittlerweile gibt es die Möglichkeit, nach einem ersten Antrag einen zweiten zu stellen. Auch diese Information haben wir weitergegeben.

Sie und Ihre KollegInnen haben am Telefon schlimme Dinge zu hören bekommen. Konnten Sie das bisher Gehörte trotzdem gut verarbeiten und abschließen?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Die Betroffenen, die anriefen, haben zum Teil sehr explizit erzählt. Manche Detailschilderungen gingen mir sehr nahe. Auch die Schilderungen von Erlebnissen älterer Anruferinnen und Anrufer haben mich bewegt. Aber ich konnte das Gehörte gut abschließen, weil wir im Kreis der Kolleginnen und Kollegen miteinander im Gespräch waren und gegenseitig in Intervision bei gleichzeitiger Wahrung der Schweigepflicht. Wir haben gelernt, wie man mit solchen Dingen umgeht und wie man sich schützt. Sonst hätten wir nicht so lange als Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und Berater arbeiten können.

Können Sie einen Fall schildern, der Sie sehr bewegt hat?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Mir ist nahegegangen, dass eine ältere Frau nach 70 Jahren zum ersten Mal über ihre Missbrauchserfahrung sprechen konnte. Gerade bei älteren Betroffenen haben wir erfahren, dass ihr ganzer Lebensentwurf schwierig geworden ist. Die Missbrauchserfahrungen, denen sie in der Kindheit ausgesetzt waren, führten dazu, dass sie oft ihre Schulausbildung nicht abschließen konnten. So war auch eine qualifizierte Ausbildung nicht möglich und der ganze Lebensweg wurde problematisch. Vor allem waren die Betroffenen häufig nicht in der Lage, dauerhafte Beziehungen einzugehen oder eine Familie zu gründen.

Dazu kommt, dass viele von den älteren Betroffenen erzählten, dass sie keinerlei Rückhalt in der eigenen Familie hatten. Nicht einmal die Eltern haben ihren Kindern geglaubt, wenn sie versucht haben, ihnen vom Missbrauch zu berichten. Sie haben ihnen vorgeworfen zu lügen, weil ein Pfarrer so etwas nicht mache. Niemand hat ihnen geglaubt. Diese Kinder waren völlig allein.

Wer hat den Missbrauch an den Menschen begangen, die sich an Sie gewendet haben?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Die Beschuldigten waren in 53 Prozent aller Fälle Priester, in 29 Prozent Ordensleute und in 11 Prozent kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch einige Lehrkräfte sowie Pädagoginnen und Pädagogen in Kindergärten waren darunter. Bei allem darf man nicht vergessen, dass es nicht nur Männer gibt, die sich schuldig gemacht haben, sondern auch Frauen haben sich missbräuchlich verhalten.

Haben die Betroffenen der Kirche den Rücken gekehrt oder sind ihr einige nach wie vor verbunden?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Es gibt beides. Viele Betroffene sind aus der Kirche ausgetreten und wollen mit ihr gar nichts mehr zu tun haben. Es gibt Betroffene, denen es schwerfällt, überhaupt noch einen Fuß in ein kirchliches Gebäude zu setzen. Deshalb war auch das erste Treffen unter dem Motto „Die Betroffenen hören“ ins Künstlerhaus verlegt worden, in einen nichtkirchlichen Rahmen. Es gibt aber auch Betroffene, die sich nach wie vor für die Kirche ehrenamtlich engagieren oder hauptberuflich für sie arbeiten.

Sie wurden auch von vielen anderen Menschen angerufen. Worum ging es in diesen Gesprächen?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Diese Kontakte verliefen sehr unterschiedlich. Einige haben sich bedankt, dass es diese Anlauf- und Beratungsstelle gibt. Andere – vor allem aus anderen Diözesen oder anderen Kirchen – haben sich über unsere Arbeit informiert und wollten Informationen zu Ansprechpersonen in ihrer Region. Hier konnten wir gut weiterhelfen. Einige Anruferinnen und Anrufer haben uns beschimpft. Wieder andere haben die riesengroße Diskrepanz zwischen der strengen Sexualmoral der Kirche einerseits und dem unmoralischen Handeln mancher Priester andererseits thematisiert.

Die Erzdiözese München und Freising setzt konsequent auf Prävention. Wie beurteilen Sie das?

Dr. Elisabeth Dreyßig: Prävention und Schulungen sind sehr wichtig, damit die Menschen für das Thema sensibilisiert werden und hinschauen. Ich habe den Eindruck, dass die Erzdiözese sehr viel Gutes in Bewegung gebracht hat. Wenn ich daran denke, wie viele Menschenleben durch Missbrauch fundamental zerstört wurden, ist es wichtig, dass man konsequent handelt.
 
Text: Gabriele Riffert, Juli 2022