„Die Pflegebedürftigen dürfen in ihren Rechten nicht eingeschränkt werden“ Ein Gespräch mit Prof. Constanze Giese über die Bedeutung der Pflegeethik beim Einsatz von Robotik

Anlässlich des Diözesanen Ärztetages spricht Prof. Constanze Giese, Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungshochschule München, über falsche Hoffnungen, sinnvoll eingesetzte Technologien und den sensiblen Umgang mit älteren Menschen.
 
EDAN, ein intelligenter Greifarm, kann Menschen mit Mobilitätseinschränkungen unterstützen.
EDAN, ein intelligenter Greifarm, kann Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im Alltag unterstützen.
Welche Position nimmt die Pflegeethik bei der Einführung von Robotik in Senioren- und Pflegeheimen ein?
Bei all den Debatten, die seit Jahren geführt werden, plädiere ich als Pflegeethikerin dafür, den Fokus auf den Einsatz der Technik zu überdenken. Denn mir scheint nicht die Technik selbst das Problem zu sein, sondern die übertriebenen Hoffnungen, die damit verbunden sind. Robotik ist keine „böse“ Technik. Man muss sie reflektiert einsetzen. Allerdings kann sie nur ganz spezielle Antworten geben – und zwar nicht auf die Fragen, die derzeit an sie gestellt werden.
 
Welche Hoffnungen verbindet die Gesellschaft mit der Technik?
Die Hoffnung, die seit Jahrzehnten auf die Technik projiziert wird, ist immer dieselbe. Seit den 70er Jahren lautet sie: Die Roboter werden uns in der Pflege entlasten. Wenn Sie sich die Anträge oder Ausschreibungen zur Förderung, zur Vermittlung und zum Einsatz dieser Techniken anschauen, finden sie immer dieselbe Argumentation: Es fallen die Worte demografischer Wandel, Zunahme pflegebedürftiger Menschen, großer Personalmangel. Gefolgt von der Forderung: Wir müssen jetzt die Robotik erproben. Ich denke aber, so einfach ist es nicht.
 
Prof. Dr. Constanze Giese, Professorin für Ehtik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungshochschule München
Prof. Dr. Constanze Giese ist Professorin für Ethik und
Anthropologie an der Katholischen Stiftungshochschule München.
Wie meinen Sie das?
Die Technik ermöglicht wunderbare Chancen. Schauen Sie sich den Assistenzroboter EDAN an, der in Seniorenheimen in Garmisch erprobt wird. Dieser einarmige Rollstuhl ist ein großartiger Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität von Menschen, die neurologische Einschränkungen haben. Allerdings braucht man ein großes Maß an Steuerungsfähigkeit, um EDAN selbst nutzen zu können. Das heißt, ich habe damit keine Antwort auf die Nöte oder Bedürfnisse der Personengruppe, an die direkt adressiert wird: die gebrechlichen, zum Teil stark dementiell veränderten alten Menschen, die vor dem Heimeinzug stehen.
 
Also diejenigen, die die Technik unterstützen soll, können sie nicht nutzen?
Genau! Das Klientel, das entweder in Kürze in eine Einrichtung kommt, oder dort schon ist, wird die Technik kaum selbst nutzen. Aus diesem Grund muss man genau überlegen, wer die Technik einsetzen soll - ist es der pflegebedürftige Mensch, ist es der Angehörige oder die Pflegekraft? Und für wen ist sie sinnvoll? Sie haben also unterschiedliche Nutzerprofile und Einsatzbereiche. Deshalb wird der Roboter, anders als erhofft, den Fachkräftemangel nicht lösen können.
 
In einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats von 2020 steht die Forderung, dass es dringend eines partizipatorischen Vorgehens in der Entwicklungsphase braucht. Waren Sie als Pflegeethikerin an der Entwicklung von EDAN und Justin beteiligt?
Ja, das sind wir künftig. Was Justin und EDAN und deren Einsatz in Garmisch betrifft, sind wir auf einem guten Weg, da wir genau das versuchen, was der Deutsche Ethikrat gefordert hat. Wir wollen mit unserer Hochschulexpertise die Pflege vor Ort darin unterstützen, zu artikulieren, was tatsächlich sinnvolle Einsatzbereiche sind. Jetzt kommt der Punkt, an dem wir sagen: Wir haben nun bestimmte technische Möglichkeiten und haben jetzt Gott sei Dank auch einen Wechsel des Fokus. Bisher war der Tenor: Jetzt gibt es diese wunderbare Technik und die Pflege nutzt sie nicht. Das ist natürlich Quatsch. Bloß weil eine Technik da ist, ist sie noch lange nicht brauchbar.
 
Wie darf man sich die Zusammenarbeit in der Praxis vorstellen?
Unsere Aufgabe besteht zunächst in einer grundsätzlichen forschungsethischen Vorprüfung. Wir reflektieren, strukturieren und stellen Fragen. Wenn es ein Gerät oder eine Technologie sein soll, die von Pflegekräften eingesetzt wird, wo sehen die Pflegerinnen und Pfleger angesichts der technischen Möglichkeiten und vor allem deren Grenzen überhaupt Potential in ihrem Arbeitsumfeld? Das ist ein guter Weg, bevor die Ingenieure irgendetwas in die Geräte hineinprogrammieren und es später niemand einsetzen kann. Zu dieser Reflektion gehört für mich als Ethikerin auch, dass man sich bei der Betrachtung der Situation von Pflegebedürftigen, die in einer Einrichtung wohnen, Erprobungsverfahren genau überlegt, bevor man in ihr Wohnumfeld eindringt und sie mit der Technik konfrontiert. Unser Fokus liegt darauf, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Rechten nicht beeinträchtigt werden.
 
Sehen Sie die Heranführung des Pflegepersonals an die Technik als weniger problematisch?
Diese Zielgruppe und der damit einhergehende Diskurs ist ethisch weniger sensibel. Das Pflegepersonal verfügt über eine eigene Expertise und Erfahrung. Aber auch dieser Prozess muss - und hier kommt die Hochschule wieder ins Spiel - pflegewissenschaftlich fundiert begleitet werden. Es muss inhaltlich analysiert werden, was punktuell und auch exemplarisch von den Pflegekräften geäußert wird, und inwieweit man das an den aktuellen Stand der pflegewissenschaftlichen Expertise rückbinden kann. Es handelt sich ja zunächst um Einzelmeinungen. Hier gilt es zu prüfen, ob die singuläre Expertise pflegewissenschaftlich, pflegetheoretisch und auch empirisch fundiert Hinweise auf eine Verallgemeinerung zulässt.
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Wichtig ist, den Pflegenden zu vermitteln, dass die Technik nicht einfach über sie kommt, sondern sie sich beteiligen und sagen können, was sie brauchen.
Prof. Dr. Constanze Giese, Pflegeethikerin
 
Sie begegnen vielen Ängsten in der Gesellschaft. Die Entwickler warnen vor einer Dämonisierung des Einsatzes von Robotik. Sehen Sie Ihre Rolle darin, Ängste zu nehmen, oder möchten Sie die Entwickler auf diese Ängste aufmerksam machen?
Wenn man es differenziert betrachtet, gibt es Anlass zu Sorge und Ängsten, weil möglicherweise der Einsatz bestimmter Robotertechnologien dazu führt, dass tatsächlich die vulnerable Gruppe der pflegebedürftigen Menschen nicht besser, sondern eher schlechter versorgt wird. Da denke ich vor allem an den Einsatz von sozialer Robotik. Ein Beispiel: Mit dem simplen Roboter Paro, der sogenannten Kuschelrobbe, können Sie Gutes erreichen. Die Roboterrobbe wird in einzelnen Heimen bereits sinnvoll eingesetzt. So etwa bei Personen, die nicht mehr sprachlich kommunizieren können, die ganz in sich zurückgezogen sind und in ihrer psychischen Veränderung kaum zur Kontaktaufnahme fähig sind. Pflegekräfte beschreiben, dass es gelingt, über diese Kuschelrobbe wieder Kontakt aufzubauen, und zwar nicht nur zwischen Mensch und Roboter, sondern dass es auch über den Kontakt zur Robbe wieder von Mensch zu Mensch zu einem Austausch kommt.

Wenn Sie allerdings in einem weniger gut geführten Heim jemanden mit so einem Teil alleine lassen, werden menschliche Kontakte weiter reduziert. Wenn die Pflegenden die Robbe einsetzen, um selbst nicht zum Klienten gehen zu müssen – etwa aus Zeitgründen - und stattdessen den Pflegebedürftigen allein vor einer Robbe parken, wäre das ein Schreckensszenario. Es ist also nicht die Technik das Problem, sondern es ist eine Frage des qualifizierten und reflektierten Einsatzes.
 
Nicht nur Laien, sondern auch die Pflegenden äußern ihre Sorgen zum Einsatz von Robotik zunehmend lauter.
Auch hier muss man differenzieren. Es gibt ganz unterschiedliche Systeme, und wir fokussieren immer die, die gerade am wenigsten funktionieren, nämlich die humanoiden Roboter, die weit davon entfernt sind, Pflege direkt am Leib des Menschen ausüben zu können. Ihnen fehlt es an der Sensitivität und an der Statik. Das bestätigen Ihnen auch die Entwickler. Interessant wird es bei ganz anderen Systemen, die auch mit maschinellem Lernen arbeiten, wie zum Beispiel Exoskeletten. Von ihnen kann die Pflege enorm profitieren, wenn Sie an die Zunahme schwer übergewichtiger Patienten denken. Mit einem Exoskelett zu arbeiten kann Pflegende deutlich entlasten. Sie können dann vielleicht zu zweit statt zu dritt jemanden positionieren. Es hängt also immer davon ab, wovon man spricht. Wichtig ist, den Pflegenden zu vermitteln, dass die Technik nicht einfach über sie kommt, sondern sie sich beteiligen und sagen können, was sie brauchen.
 
Justin kann mit seiner Hand auch Schubladen öffnen
Justin kann auch Schubladen öffnen - und ist so für Hol- und Bringdienste einsetzbar.
Die Ängste bei den Pflegenden sind aber auch: Wird mein Beruf abgewertet? Werde ich schlechter bezahlt? Ersetzen mich irgendwann Maschinen?
Manch einer meint, dass der Beruf aufgewertet wird, weil er techniknäher wird. Das halte ich für fatal. Wenn wir in dem gesellschaftlichen Denken bleiben, dass die möglichst techniknahen Berufe, die aufgewerteten sind und die menschennahen nichts wert sind, dann können wir diesen gesellschaftlichen Laden sowieso zusperren. Wir sollten sehen, dass die Pflege eine Aufwertung über Technik nicht nötig hat, weil sie den komplexesten Gegenstand schon hat – und das ist der Mensch und nicht die Technik. So komplex die Technik sein mag, der Mensch wird immer komplexer sein.
Wo ich sehr zuversichtlich bin, ist beim Einsatz von Assistenztechnologie. Da sehe ich auch gerade für Justin und EDAN am ehesten das Potential und nicht im bewohnernahen Einsatz.
 
Welche Assistenz ist damit gemeint? Etwa das Umbetten eines Bewohners?
Nein, das gerade nicht. Das können die Roboter derzeit nicht. Dazu brauchen sie eine ganz hohe Sensibilität. Es geht eher darum, wenn Pflegende bei einem Patienten sind und ihnen fehlt etwas, dass sie sagen können: 'EDAN, ich brauch dieses oder jenes', und wenn es er in einer vernünftigen Zeit schafft, den Gegenstand zu bringen, wäre das sicherlich eine Entlastung. Die Service-Robotik wird vor allem im häuslichen Bereich bei neurologisch eingeschränkten Menschen eingesetzt werden, um deren Unabhängigkeit zu stärken.
 
Wenn man in die Glaskugel schaut, müsste man dann nicht als noch mündiger Mensch entscheiden, ob man den Einsatz von Robotik bei sich später einmal möchte?
Das ist ein falscher Ansatz. Die Gesellschaft sollte nicht ständig auf die Technik schauen, sondern die Frage in den Fokus rücken: Warum will mich keiner pflegen? Als vernünftiger Mensch sollte man heute die Weichen so stellen, dass in späteren Jahren Pflegekräfte vorhanden sind, die die Technik, die dann da ist, zum Nutzen der Pflegebedürftigen einsetzen. Ich brauche, wenn ich alt und gebrechlich bin, ein Umfeld, dem ich mich anvertrauen kann. Dafür braucht es hochmotivierte und qualifizierte Menschen in der Versorgung. 
 
Dann ist also nicht die entscheidende Frage, ob ich es möchte, dass mich ein Roboter in hohem Alter in ganz intimen Momenten begleitet, etwa auf die Toilette?
Genau. Die Frage wird stattdessen sein, wie kriege ich das heute hin, dass derjenige, der Verantwortung für mich übernimmt, wenn ich es selbst nicht mehr kann, es dann zu meinem Besten tut.

Die Fragen stellte Angelika Slagman, Online-Redakteurin, Stabsstelle Kommunikation, September 2021