„Unfreiwilliger Verzicht ist eine Zumutung“ Theologin und Psychotherapeutin Sybille Loew über das Fasten während der Corona-Pandemie

Am Aschermittwoch beginnt die 40-tägige Fastenzeit, die Vorbereitungszeit auf Ostern. Traditionell verzichten Menschen während dieser Zeit bewusst auf bestimmte Speisen oder Gewohnheiten, um einen neuen Blick auf das eigene Leben und die Beziehung zu Gott zu erlangen. Welche Bedeutung das Fasten gerade während der Corona-Zeit haben kann und wie sich verordneter und selbst auferlegter Verzicht voneinander unterscheiden, darüber sprachen wir mit der Leiterin der Münchner Insel Sybille Loew.
 
junger Mann nachdenklich mit Maske
Die Beschränkungenin der Corona-Pandemie sind oft schwer auszuhalten. Es bedarf einer großen inneren Leistung, um ihnen Sinn beizumessen und sich immer bewusst zu machen, warum sie nötig sind.
Beschränkungen, Verbote und Verzicht wegen Corona prägen seit rund zwei Jahren unser Leben. Ist ein zusätzlicher bewusster Verzicht während der Fastenzeit in diesem Jahr nicht etwas viel verlangt?

Es ist ein Unterschied zwischen dem Verzicht aufgrund der Pandemie und dem freiwilligen Verzicht. Das unfreiwillige Verzichtenmüssen hat einen Anklang von Ohnmacht, von Kränkung. Es ist eine Zumutung. Es bedarf einer großen inneren Leistung, um dem einen Sinn abzugewinnen. Ich muss Werte haben, für die ich das tue. Ich kann sagen, ich will mich und andere schützen, meine Familie, Freunde, Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte mich solidarisch verhalten. Ich möchte empathisch sein für alte oder kranke Menschen, für Menschen mit Vorerkrankungen oder Menschen, die an besonders kritischen Stellen wie im Gesundheitssystem arbeiten.

Um den unfreiwilligen Verzicht aushalten zu können und nicht in Widerstand, Wut oder Boykott zu verfallen, brauche ich sehr viel innere Motivation. Das ist eine Leistung, die wir als Kinder schon erlernen müssen. Die Mutter sagt, du darfst nur einen Keks essen und nicht drei, und man ringt mit sich, ob man nicht doch heimlich noch einmal hinlangen soll. Manche Kinder schaffen das und andere nicht.

Hinzu kommt der hohe Grad an Individualisierung in westlichen Kulturen. Jeder möchte sich verwirklichen, jeder möchte all das tun, worauf er ein Recht hat. Die Grundrechtediskussion ist sehr wichtig. Aber manche Menschen legen das so aus, dass es nur um ihre persönlichen Rechte geht. Dann bleiben die Rechte von Schwachen und von Minderheiten auf der Strecke. Einige Menschen erleben es als Kränkung, dass sie sich jetzt an bestimmte Regeln halten müssen, nicht in Urlaub fahren, nicht überall hinfliegen, nicht alles machen können, was sie sonst machen.

Was macht den freiwilligen Verzicht so anders?

Ein freiwilliger Verzicht ist von Anfang an mit Sinn versehen. Er ist sinnstiftend. Ich entscheide mich aktiv für eine begrenzte Zeit dafür. Ich verbinde damit bestimmte Werte, um derentwillen ich den Verzicht bewusst auf mich nehme. Wenn ich bestimmte Vorsätze durchhalte, erlebe ich mich selbstwirksam und am Ende steht ein Ziel, bei der christlichen Fastenzeit ist es das Osterfest.

Was wären denn geeignete Vorsätze für die Fastenzeit in diesem Jahr?

Was ich großartig finde, ist das Angebot der Exerzitien im Alltag. Ich bekomme jeden Tag einen spirituellen Text, einen Bibeltext, ein Bild oder eine Geschichte, die mich aufeinander aufbauend Tag für Tag innerlich zu einem bestimmten Thema lenken. Wenn ich das mache, habe ich am Ende einen Reflektionsprozess durchlaufen, der mich genährt, der Sinn gestiftet und mir bestimmte Werte bewusst gemacht hat, der meinen Glauben reflektiert und meine Beziehung zu Gott belebt hat.

Also kein Verzicht, sondern ein Zusatz, nicht weniger, sondern mehr…

Es ist der Gewinn eines selbst gewählten Erlebens. Ich gehe in die Stille. Ich erneuere meine Beziehung zu Gott. Dabei habe ich trotzdem diese Entschleunigung, diese Langsamkeit. Vielleicht gehören Meditationseinheiten dazu. Vielleicht mache ich bewusst jeden Tag einen Spaziergang, nehme in der Natur etwas bewusst wahr. Ich gestalte mir möglicherweise in meiner Wohnung einen Platz, wo ich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit eine Kerze anzünde und die Texte lese, darüber nachdenke oder ein Tagebuch dazu schreibe. Es gibt viele kreative Möglichkeiten.
 
Kerze, Tasse, Bücher und Brille neben Decke
Wenn wir die Fastenzeit bewusst gestalten, entstehen Momente von Stille. Sie geben uns die Möglichkeit, unser Leben zu hinterfragen und uns bewusst zu werden, was uns wirklich wichtig ist.
 
Inwiefern trägt das Fasten dazu bei, in der Vorbereitungszeit auf Ostern näher zu Gott zu kommen?

Wenn wir weniger essen oder sogar für eine bestimmte Zeit ganz aufs Essen verzichten, spart sich der Körper ganz viel Verdauungsenergie. Wer diese Erfahrung macht, wird merken, dass man unglaublich viel Energie hat. Manche vermuten, man würde die ganze Zeit hungrig sein und sich schlapp und elend fühlen. Aber das ist nicht der Fall, oder zumindest nur die ersten ein, zwei Tage. Dann werden Zeit und Energie frei, um sich anderen Dingen zu widmen.

Das körperliche Fasten, der Verzicht auf bestimmte Dinge wie Alkohol oder Süßigkeiten, setzt in mir Kraft frei. Ich sehe, dass ich das schaffe, ich darf stolz sein. Das Gleiche gilt, wenn ich mir vornehme, meine Zeit am Handy oder vor dem Bildschirm zu reduzieren. Auch dann entsteht Zeit. Es entsteht ein Moment von Stille. Sie entsteht, wenn ich einmal bewusst nicht lese, keinen Film anschaue, keine Musik höre, mich nicht mit irgendetwas von außen füttere, sondern in die Stille in mir komme. Das ist für viele Menschen gar nicht so leicht auszuhalten. Stille kann beängstigend sein. Vielleicht kommt Traurigkeit, vielleicht ein Bilanzieren, ein Hinterfragen. Sich dem zu stellen, kann eine sehr bereichernde Erfahrung sein.

Aber genau das ist der Sinn der Fastenzeit: zu wandeln, zu gestalten, diese Zeit nicht nur über sich ergehen zu lassen, sondern dem Denken und möglichen neuen Erfahrungen bewusst eine Richtung zu geben. Zum Beispiel die Erfahrung, meine Sorgen und auch meine Freuden in die Hand Gottes zu legen. Ich kann schauen, ob ich vertraue und diesen tragenden Grund Gottes in mir erfahren kann. Nicht umsonst gibt es viele Exerzitienformen, die in totaler Stille ablaufen. Es ist eine wunderbare Erfahrung, in diese Stille zu kommen. Zu spüren, wie steht es mit mir und meinem Gott, wo sind wir gerade, verändert sich vielleicht etwas in meinem Gottesbild, habe ich Zweifel oder Fragen oder habe ich gerade eine sehr schöne Gottesbegegnung erlebt. Das kann nur passieren, wenn ich mich dieser Gotteserfahrung öffnen kann.

Sie beschreiben eine Situation, die von großem Gestaltungsspielraum und einem hohen Maß an Reflektionsfähigkeit geprägt ist. Was ist mit Menschen, die massiv unter den Folgen der Pandemie leiden und keine Lust oder keine Kraft mehr zum Gestalten haben?

Auch dann ist die Frage, wie kann man das aushalten, wie geht man mit Frustration um. Wie kann es beispielsweise gelingen, sich, abhängig von der individuellen Situation, einen eigenen Tagesrhythmus zu schaffen. Natürlich ist es ein Unterschied, ob ich in Kurzarbeit bin oder arbeitslos, einsam oder eine große Familie managen muss oder eine alleinerziehende Mutter im Home-Office bin. Wichtig ist, dass Menschen dem, was sie noch machen können, einen Sinn abgewinnen. Sei es der Spaziergang einmal am Tag, seien es besondere Radiosendungen, Filme oder Bücher. Ich beschäftige mich mit Dingen, die mir sinnvoll erscheinen. Ich pflege die Kontakte, die ich habe, zum Beispiel per Telefon.

Ich darf jammern. Alle dürfen jammern, dürfen sagen, es ist kaum auszuhalten. Zugleich können wir uns auch immer wieder bewusst machen, es hat einen guten Zweck. Wir hoffen, dass die Pandemie mit all den Entbehrungen und Maßnahmen überwunden wird, dass es dann mit der Wirtschaft weitergeht, dass es uns wieder gut geht, auch finanziell, dass unser Staat weiterhin stabil bleibt, dass Politiker, Wissenschaftler und andere Verantwortung übernehmen.

Hinzu kommt: Wir sind in der Corona-Zeit nicht nur mit Verzicht konfrontiert. Für einige hat die Pandemie auch Positives hervorgebracht. Man darf das nicht schönreden. Aber es gibt Familien, die wieder angefangen haben, Gesellschaftsspiele miteinander zu spielen. Oder Paare, um deren Ehe es vorher nicht besonders gut bestellt war und die plötzlich wieder angefangen haben, ganz viel miteinander zu reden. Es gibt depressive Menschen, die endlich einmal nicht das Gefühl haben, in dieser Wahnsinns-Turbo-Leistungsgesellschaft die einzigen „Looser“ zu sein, die es nicht schaffen, supertoll zu arbeiten und ihr Leben zu managen. Es gibt Menschen, die die Verlangsamung genießen. Menschen, die früher viel geshoppt haben und das jetzt weniger tun. Die Veränderung hat etwas sichtbar gemacht. Es sind plötzlich Nachbarschaftshilfen entstanden. Neue Gemeinschaften haben sich gefunden.

Aber es ist richtig, es gibt die einsamen Menschen, Menschen, die größte finanzielle Probleme bekommen haben, Selbstständige, Menschen, die arbeitslos geworden sind. Menschen, die Angehörige verloren haben. Menschen, die alleine gestorben sind. Da gibt es extremste Härten.

Gehören Sie zu denjenigen, die glauben, dass die Welt nach Corona eine bessere sein wird?

Eine andere auf jeden Fall. Corona hat uns allen unsere Verletzlichkeit deutlich gemacht. Es hat uns allen deutlich gemacht, was wirklich wichtig ist, hat uns viele Dinge bewusst gemacht.

Ich glaube, die Dankbarkeit für das, was wir haben, wird sehr groß sein, wir werden es nochmal ganz anders genießen. Die Solidarität, die wir jetzt in der Gesellschaft erleben, wird weiterleben. Ein Umdenken wird stattfinden, wie viel wir wirklich an äußeren Werten im Leben brauchen und ob nicht innere Werte vielleicht wichtiger sind. Diese Werte werden in unserer Gesellschaft stärker spürbar sein.
 
Porträt Sybille Loew
Sybille Loew ist Theologin, Psycho- und Kunsttherapeutin. Sie leitet mit ihrem evangelischen Kollegen die Krisen- und Lebensberatungsstelle Münchner Insel.
 
Interview: Christina Tangerding, Freie Mitarbeiterin

Fasten = Geistliche Übung

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