„Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau!“ Über das Wünschen, ein Kinderbuch über Obdachlosigkeit und die große Wohnungsnot in München

Cornelia Pagels Neffen und Patenkinder wollten von ihr wissen, warum manche Menschen kein Dach über dem Kopf haben. Immer wieder. Weil sie ihre Antwort auch anderen Kindern weitergeben wollte, wandte sich die Gründerin des Vereins Schneekönige, der Wohnungslosen Wünsche erfüllt, 2019 an den Katholischen Männerfürsorgeverein München (KMFV). Das Ergebnis der Zusammenarbeit ist jetzt im Buchhandel erhältlich: „Über das Wünschen“, das erste Kinderbuch zum Thema Obdachlosigkeit (novum Verlag), mit collagenhaften Bildern, die von ehemals obdachlosen Männern gezeichnet wurden. Das beeindruckende Buch weist zusätzlich auf ein großes Problem hin: der Mangel an Wohnraum in München   
 
Auf dem Foto ist ein obdachloser Mann zu sehen, der in einer Unterführung auf einer Decke liegt.
In München hat sich die Zahl der Wohnungslosen zuletzt fast verdreifacht. Darunter sind auch Frauen und Männer, die wegen Corona ihre Arbeit verloren haben.
Cornelia Pagel gründete den Verein Schneekönige 2015. Mit Hilfe von Spendern und Fundraising im Internet erfüllt sie Wünsche von Wohnungslosen – ein Fahrrad, ein Musikinstrument, solche Dinge. Die Geschichte für das Kinderbuch stammt von ihr: Der kleine Max wünscht sich schon lange einen Hund. Als er den obdachlosen Mann Franz und dessen Hund kennenlernt, werden sie Freunde. Als Max von Franz’ größtem Wunsch erfährt, versucht er, ihm diesen zu erfüllen – auch wenn er selbst Verzicht üben muss.
 
Auf dem Foto ist Tanja Frank zu sehen. Sie ist Kunsttherapeutin
Tanja Frank ist Kunsttherapeutin. Gemeinsam mit den wohnungslosen Männern arbeitete sie viele Wochen an den Bildern für das Kinderbuch.
Beim KMFV wurde der Vorschlag für das Kinderbuch begeistert aufgenommen. Im Haus an der Knorrstraße, einer Einrichtung für wohnungslose Männer, nahmen sich die beiden Kunsttherapeutinnen Tanja Frank und Isabel Huttner des Themas an. „Jeder Bewohner hat ein anderes Element gezeichnet – der eine den Hund, der andere den Jungen, der dritte die Landschaften und Stadtansichten“, erzählt Tanja Frank. „Wir wollten, dass die Figuren über das ganze Buch hinweg gleich bleiben. Am Ende fügte meine Kollegin Isabel Huttner alles zusammen, wie bei einer Collage.“

Sie selbst, eine erfahrene Autorin und Filmemacherin, hat Cornelia Pagels Textvorlage aufgegriffen und zusammen mit den Bewohnern des Hauses weiterentwickelt. Dabei waren sie nicht immer einer Meinung: „Unsere Bewohner waren viel toleranter als ich. Wenn mir die Story zu tränendrüsig war oder zu emotional, fanden sie das eher gut. Unsere Bewohner sind liebenswürdige Menschen. Wenn man ihnen etwas gibt, akzeptieren sie es so, wie es ist.“ Sie arbeiteten viele Wochen an den Bildern: „Wir waren wie eine kleine Alchemistenküche im Keller, mit den vielen Zeichnungen, ausgeschnittenen Figuren, Collagen und fertigen Bildern. Jeder hat sein Herzblut in das Gemeinschaftsprojekt gesteckt.“
 
Auf dem Foto ist ein ehemaliger wohnungsloser Mann zu sehen. In der Hand hält er das Kinderbuch "Über das Wünschen".
Christian Renoth wohnte 2019 in der Knorrstraße und
zeichnete den Hund Lucy für das Kinderbuch.
Das kann Christian Renoth nur bestätigten. Der 60-Jährige wohnte 2019 in der Knorrstraße und zeichnete unter anderem den Hund Lucy. „Die Arbeit an dem Buch hat mir Riesenspaß gemacht. Jeder von uns war gleichberechtigt und konnte sich mit seinen Ideen einbringen.“ Neben Lucy hat er ein weiteres Bild aus dem Buch gemalt, auf dem der Junge Max wenige Tage vor Weihnachten aus dem Fenster in den schneebedeckten Hof schaut. Dafür hat er sich an einem Bild von Gabriele Münter orientiert und es so verändert, dass es zur Geschichte passt. „Für die Schneeflocken haben wir weiße Locherschnipsel verwendet. Es ist richtig gut geworden!“

Christian Renoth leidet schon lange an Depressionen und Panikattacken. Früh hat er diese Gefühle mit Alkohol betäubt. Nach vielen Jahren auf der Straße fühlte er sich im Haus in der Knorrstraße, wohin er 2015 kam, zum ersten Mal gut aufgehoben. Heute lebt er in einer Langzeiteinrichtung des KMFV, das Haus St. Benno in Oberschleißheim, wo er eine eigene kleine Wohnung für sich hat. „Ich brauche das, dass ich die Tür hinter mir zusperren kann.“ Am Kinderbuch gefällt ihm, dass es „zeigt, dass Obdachlose normale Menschen sind, die durch irgendetwas im Leben aus dem Tritt geraten sind, was jedem passieren kann“.
 
In München hat sich die Zahl der Wohnungslosen verdreifacht

Im Buch möchte der Junge Max beispielsweise wissen, warum Franz mit seinem Hund Lucy auf der Straße lebt. „Wisst ihr, wenn es mal bergab geht, dann ist es schwer, da wieder herauszukommen“, sagt der Obdachlose. Claudia Eisele, Abteilungsleiterin Ambulante Dienste und Fachreferentin Wohnungslosenhilfe des KMFV, kennt viele solcher Fälle – gerade in München. „In der Stadt hat sich die Zahl der Wohnungslosen zuletzt fast verdreifacht. Vor zehn Jahren waren es rund 3.200 Menschen, jetzt sind es 8.250 – und das sind nur die akut Wohnungslosen, die in Notunterkünften untergebracht sind. Menschen, die in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe leben wie dem Haus in der Knorrstraße, sind in dieser Zahl nicht einberechnet.“ Darunter sind Männer und Frauen, die wegen Corona ihre Arbeit verloren haben, aber auch Familien aus der Mitte der Gesellschaft oder psychisch kranke Menschen. Seit 2015 kam eine weitere Gruppe hinzu: Anerkannte Flüchtlinge mit Recht auf Asyl, die keine Wohnung finden. „Das ist eine neue Klientel in der Wohnungslosenhilfe.“
 
Auf dem Foto ist Claudia Eisele zu sehen. Sie ist Abteilungsleiterin Ambulante Dienste und Fachreferentin Wohnungslosenhilfe des KMFV.
Claudia Eisele ist Fachreferentin Wohnungslosenhilfe beim KMFV.
All diese Menschen treffen auf einen schwierigen Wohnungsmarkt. Claudia Eisele: „Es gibt viel zu wenig Wohnraum in der Stadt. Wohnungslose Menschen und die Geringverdiener haben keine Chance. Das mag jetzt abgedroschen klingen, aber: Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau, weil sonst auch die Wohnungslosenhilfe ins Leere läuft.“

Aus diesem Grund ist der KMFV schon länger selbst aktiv geworden. Der Verein hat unter anderem ein Apartment-Haus für Wohnungslose angemietet und die Fachstelle Wohnraumakquise eingerichtet. „Hier ist in den vergangenen Jahren einiges passiert. Am Ende ist es aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt sie. Auch das Erzbistum München und Freising engagiert sich stark. Im September weihte Kardinal Reinhard Marx eine Krankenwohnung des Vereins in Sendling ein, in der obdachlose Menschen medizinisch-pflegerisch in einer häuslichen Umgebung versorgt werden können. Die Erzdiözese finanziert das Projekt für drei Jahre mit rund 430.000 Euro.
 
Die Corona-Pandemie hat die Lage weiter verschärft

Die Corona-Pandemie hat die Lage der wohnungslosen Menschen in der Stadt weiter verschärft. Ämter und Behörden waren nur eingeschränkt oder überhaupt nicht erreichbar; Suppenküchen und Tagesangebote waren geschlossen; in den Allgemeinverfügungen des Freistaats wurde die Wohnungslosenhilfe zu Beginn der Pandemie überhaupt nicht berücksichtigt, sodass keine Schutzkleidung oder Masken zur Verfügung standen. Erschwerend kam hinzu, dass die Wohnungslosenhilfe nicht im Homeoffice arbeiten kann. „Unsere Mitarbeitenden waren die ganze Zeit vor Ort und haben sich vielen Risiken ausgesetzt“, sagt Claudia Eisele. Sie setzen ihre Gesundheit aufs Spiel, um den Menschen in München zu einem anständigen Dach über dem Kopf zu verhelfen.

Das Fazit von Claudia Eisele klingt ernüchternd, aber nicht hoffnungslos: „Der Wohnungsmarkt in München ist katastrophal. Dafür ist die Wohnungshilfe in München gut ausgestattet und vielfältig.“ Ein vergleichbares System der Wohnungslosenhilfe finde sich in keiner anderen Großstadt in Deutschland, sagt sie: „Wir können jeden von der Straße wegbringen, der untergebracht werden möchte, und haben hervorragende Einrichtungen wie das Haus in der Knorrstraße, wo auch das Kinderbuch entstanden ist.“ Es bringt den Kleinen ein großes Problem näher, das die Stadt und ihre Bewohner noch lange beschäftigen wird. Schnelle Lösungen sind nicht in Sicht, dafür sind engagierte Helfer wie der KMFV und der Verein Schneekönige nicht weit. Und die Hoffnung auf Menschen wie Ute und Max aus dem Buch. Die nicht wegsehen, sondern hinschauen – und den Schwächsten der Gesellschaft helfen.  

Text: Christian Horwedel, freier Autor, November 2021