Inklusive Kirchenführungen: Spezielle Angebote für ganz besondere Menschen Ein Gespräch mit Ruth Lobenhofer, Kirchenführerin seit fast drei Jahrzehnten in München und Expertin für bleibende Erlebnisse

Inklusive Kirchenführungen, Führungen für von Demenz betroffenen Menschen, niederschwellige Angebote wie „München leicht entdecken“ - Ruth Lobenhofer, erfahrene Kirchenführerin, schildert im Interview die vielfältigen Angebote, den Kirchen im Erzbistum zu begegnen.
 
Kirchenführerin Ruth Lobendorfer bei einer Führung durch den Münchner Liebfrauendom
Ruth Lobenhofer bei einer Führung durch den Münchner Liebfrauendom
Frau Lobenhofer, Sie sind seit fast 30 Jahren Kirchenführerin im Erzbistum München und Freising. Wie hat sich das ergeben?

Ruth Lobenhofer: Angefangen hat alles 1994 mit der Wiedereröffnung des Münchner Doms Zu Unserer Lieben Frau nach der langen Renovierungszeit seit 1989. Das Interesse an Kunst und Kirche ist bei den Münchnern und darüber hinaus schnell gewachsen, es gab einen großen Andrang und Zulauf für die Besichtigung des restaurierten Doms, und so ist auch das Angebot an Führungen im Dom, aber auch für viele andere Münchner Kirchen immer mehr erweitert worden. Koordiniert und inhaltlich ausgearbeitet wird das Angebot nach wie vor vom Münchner Bildungswerk, in enger Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt München. Und so habe ich im Rahmen von Altstadtführungen immer wieder und verstärkt auch die Münchner Kirchen in den Blick genommen.
 
Ihr Schwerpunkt liegt seit Jahren auf inklusiven Kirchenführungen. Wie ist es dazu gekommen?

Ruth Lobenhofer: Ja, das stimmt, in den letzten Jahren sind inklusive Führungen immer wichtiger geworden, weil wir so Menschen mit Handicap, etwa blinde oder sehbehinderte Menschen, aber auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder einer Demenzerkrankung gezielt ansprechen und oft auch begeistern können. Hier hat es ab etwa 2010 einen regelrechten Durchbruch gegeben, vor allem nach der Unterzeichnung der UN-Behindertenkonvention durch die Bundesrepublik 2009. Für mich persönlich ist die Kombination von Inklusion, Kirche und Kunst geradezu ideal, weil ich so meine Passionen für die Kunst wie für die Weitergabe dieser Inhalte an andere Menschen und damit meine beiden Ausbildungen als Sozialpädagogin und Kunsthistorikerin wunderbar verbinden kann.
 
Wie verläuft eine inklusive Kirchenführung normalerweise?

Ruth Lobenhofer: Hier darf ich gleich einmal einhaken, es gibt nicht die klassische inklusive Kirchenführung, denn: Jede Führung ist anders, das kommt immer auf die Menschen an, die sich zusammengefunden haben, mit ihren je eigenen Bedürfnissen. Freilich überlege ich mir vorher einen bestimmten Rahmen, plane gewisse Elemente ein. Doch was daraus dann in der konkreten Führung wird, das ist offen und immer wieder überraschend, das ergibt sich im Zusammenspiel der Menschen mit mir, aber auch im Austausch der Menschen untereinander.
 
Die Teilnehmenden führen sich demnach auch gegenseitig?

Ruth Lobenhofer: Genauso ist es. Bei einer Tastführung für Blinde und Sehbehinderte wird das schnell deutlich. Vor dem Dom gibt es zunächst einmal das jederzeit zugängliche Tastmodell, und wir bilden dann für die Domführung immer Tandems mit einem blinden und einem sehenden Menschen, der allerdings eine Augenbinde bekommt, so dass es beim Sehvermögen keinen Unterschied mehr bei den Teilnehmenden gibt. Die Tandems beschreiben sich gegenseitig, was sie erkennen, und da sind die eingeschränkten Menschen den Sehenden tatsächlich meilenweit voraus, und zwar nicht nur im Ertasten und Erfühlen, sondern vor allem auch in der Art und Weise der Beschreibungen. Denn Blinde und Sehbehinderte haben für ihre Sinneseindrücke ganz andere Worte und Begriffe, einfach viel bessere verbale Ausdrucksmöglichkeiten. Zudem gibt es im Dom ein spezielles Buch mit Informationen in Braille-Schrift, das für unsere Führungen jedes Mal speziell zur Verfügung steht, das aufgrund seiner Größe jedoch leider nicht ständig zugänglich sein kann.
 
Was geschieht konkret bei Führungen für Menschen, die von Demenz betroffen sind?

Ruth Lobenhofer: Dass nicht alles planbar ist, gilt für eine Führung für Menschen mit einer Demenzerkrankung in besonderer Weise. Vielleicht hat es für die eine oder den anderen längeren Anfahrtsweg gegeben, möglicherweise sind die Witterungsverhältnisse oder auch die Gegebenheiten für Rollstuhlfahrer oder die Toilettensituation ungünstig – wie dem auch sein mag: Ich nehme die Menschen so, wie sie zu mir kommen, und es ist wichtig, dass gerade diese Menschen, die oftmals nicht mehr allzu mobil sind und seltener ihre gewohnte Umgebung verlassen können, bei einer Kirchenführung behutsam in einen neuen Raum hineingenommen werden. Das gelingt gerade zu Weihnachten oder Ostern besonders gut, weil diese Feste bei vielen tief mit Kindheitserinnerungen verankert sind.

Diese Erinnerungen können in Momenten wie einer Kirchenführung wieder in das Gedächtnis geholt werden, nicht zuletzt durch olfaktorische Sinneseindrücke, durch den Geruchssinn. Deshalb dürfen wir an den Heiligen Ölen riechen, oder es wird das Weihrauchfass für uns geschwenkt, der Duft steigt auf – es ist faszinierend zu sehen, wie die Teilnehmer dabei immer lebendiger werden, wieder zu sprechen beginnen, miteinander in Kontakt kommen, einfach zu sehen, wie überhaupt ein Austausch in Gang kommt.
 
Welche besonderen Umstände gilt es dabei zu berücksichtigen?

Ruth Lobenhofer: Wichtig ist, dass die Gruppen nicht allzu groß sind, meist sind es sechs bis sieben Teilnehmende, dazu kommen die Begleitpersonen, und dass wir einen geschützten Raum für die Zeit der Führung haben, wir also nicht durch andere Gruppen oder Besucher gestört werden. Darüber hinaus ist es immer schön, wenn man den Teilnehmenden etwas in die Hand geben oder mit ihnen gemeinsam ein bekanntes Lied anstimmen kann, etwa mit einer speziellen Audio-Box, die ich in Absprache mit den Verantwortlichen benutzen darf. Damit werden zum einen viele Erinnerungen geweckt, und zum anderen aber wird es damit leichter möglich, dass die Teilnehmenden die Kirchenführung besser im Gedächtnis behalten.

Auch werden für uns oft exklusive Orte zugänglich gemacht, etwa das Presbyterium im Münchner Dom. Dafür eignet er sich aufgrund seiner Barrierefreiheit auch hervorragend. Die Zusammenarbeit mit der Münchner City- und Tourismuspastoral, dem Dompfarramt wie auch der Münchner Alzheimer-Gesellschaft, durch die wir diese Führungen für demenziell veränderte Menschen anbieten können, ist wirklich positiv, in jeder Hinsicht.

Daneben gibt es weitere niederschwellige Angebote wie „München leicht entdecken“. Wen wollen Sie damit ansprechen?

Ruth Lobenhofer: Ausgangspunkt war hier die starke Zuwanderung im Jahr 2015. Die Stadt München und die Erzdiözese wollten den neu angekommen Menschen ein Angebot machen, die Kultur ihrer neuen Lebenswelt in leichter Sprache und ohne Vorkenntnisse, also buchstäblich leicht kennen zu lernen. Gerade Migranten aus Syrien oder Afghanistan waren zuvor kaum je in Kontakt mit dem Christentum, so dass wir damit in gewisser Hinsicht Neuland betreten mussten. Diese Führungen machen wir bis heute und mit großem Interesse seitens der zugewanderten Menschen. Die Angebote sind allesamt kostenlos oder maximal mit einem kleinen Unkostenbeitrag versehen.

Natürlich hat die Pandemie auch diese Führungen für Menschen aus anderen Kulturkreisen nahezu vollständig ausgebremst – genauso wie alle anderen speziellen Kirchenführungen, weil hier ja ein intensiver Austausch mit anderen Personen und mit Gegenständen unerlässlich ist. Doch diese Zeit haben wir nun hinter uns gelassen, so dass ich mich schon darauf freue, in diesem Jahr wieder mit vielen Gruppen auf ihre je unterschiedliche Art und Weise die Münchner Kirchen entdecken zu dürfen.
 

Angebote für Kirchenführungen des Münchner Bildungswerks

Das Münchner Bildungswerk bietet in mehr als 20 bedeutenden Münchner Kirchen Führungen an. Das Führungsteam besteht ausschließlich aus fachlich qualifizierten, erfahrenen Referentinnen und Referenten mit anerkannten Abschlüssen. Insgesamt fanden bis zur Corona-Pandemie 2020 jeweils etwa 160 Kirchenführungen pro Jahr statt, davon gut 40 für Menschen mit Handicap; 2022 gab es immerhin insgesamt wieder etwa 100 Führungen. Die Angebote sind für alle Interessierten buchbar, für Einzelpersonen wie für Gruppen.
 
Dabei gibt es verschiedene Formate, in denen Kirchenführungen stattfinden, konkret:

·         Führungen, in denen ausschließlich eine Kirche vermittelt wird
·         Führungen, in denen eine Kirche und ihre Umgebung vermittelt werden („Kirche plus“) sowie
·         Führungen, in denen Kirchen im Rahmen einer Stadtführung eine bedeutende Rolle einnehmen
 
Darüber hinaus gibt es Kirchenführungen für spezielle Zielgruppen, etwa Menschen mit Handicap ebenso wie Migranten. Das Angebot umfasst dabei sowohl Tastführungen für Menschen mit Seh-Beeinträchtigungen und Sehende (im Dom und in München-St. Michael) als auch Führungen in leichter Sprache für

·         Menschen mit Migrationshintergrund im Rahmen einer kombinierten Stadt- und Kirchenführung
·         Menschen mit kognitiven Einschränkungen
·         Menschen mit dementiellen Veränderungen und ihren Angehörigen – Führungen in verschiedenen Kirchen (Dom, St. Michael, Theatinerkirche, St. Sylvester, St. Martin/Moosach, St. Jakob am Anger)
 
Die Angebote an Kirchenführungen des Münchner Bildungswerks sind online abrufbar.
 
Das Münchner Bildungswerk ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft „Netzwerk Kirchenführungen“, einem deutschlandweiten Zusammenschluss von katholischen Institutionen, die mit der Organisation von Kloster- und Kirchenführungen beziehungsweise Weiterbildung an bedeutenden Kirchen im deutschsprachigen Raum befasst sind. Im Rahmen der jährlichen Tagungen, organisiert von der Thomas-Morus-Akademie und dem Domforum Köln, bringt das Münchner Bildungswerk die eigenen Erfahrungen in den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen ein.
 
Die Ausbildung für Kirchenführer:innen wird in unterschiedlichen Einrichtungen und Standorten in der Erzdiözese organisiert und angeboten, sowohl seitens des Erzbischöflichen Ordinariats München (EOM) als auch einzelner Kreisbildungswerke. So betreut Pastoralreferentin Angelika Brunnbauer von der Tourismusseelsorge des EOM aktuell etwa 50 Kirchenführerinnen und Kirchenführer während der Ausbildung, ungefähr 15 schließen jedes Jahr die Ausbildung ab. Hinzu kommen Kursangebote einzelner Kreisbildungswerke, etwa in Dachau, Erding, Fürstenfeldbruck, Miesbach und Rosenheim.