Kirche ohne Musik, Musik ohne Kirche – ist das vorstellbar? Diözesanmusikdirektor Prof. Stephan Zippe nimmt mit auf eine Zeitreise und räumt dabei mit einem großen Irrtum über Kirchenmusik auf.
Die älteste Musik, die wir heute hören können, ist Kirchenmusik. Verstaubt und von gestern ist sie deshalb aber noch lange nicht.
Immer wieder lernen wir durch archäologische Fundstücke aus fernen Zeiten etwas über unsere Geschichte. Doch wie die Welt damals klang? Wir wissen es nicht. Notenschrift musste erst erfunden werden, die Antike ist für uns eine Welt der verlorenen Klänge.
Möchten wir die älteste abendländische Musik hören, die heute greifbar ist, ist das Kirchenmusik. Wie sie bis heute prägt und warum wir gewissermaßen ihre Blütezeit erleben, erklärt Diözesanmusikdirektor Stephan Zippe im Interview.
Herr Professor Zippe, hätte es die Beatles so gegeben, wenn es keine Kirchenmusik gegeben hätte?
Stephan Zippe: Man weiß natürlich nie, was gewesen wäre wenn, aber: Der aktuelle musikalische Forschungsstand geht schon davon aus, dass die liturgische Einstimmigkeit, die wohl im 8. Jahrhundert entstand, Grundlage der gesamten abendländischen Musik ist und sich daraus alles Weitere entwickelt hat: Die Mehrstimmigkeit, auch die weltliche Musik, die verschiedenen Musikstile der einzelnen Epochen.
Wie hat diese "liturgische Einstimmigkeit" geklungen?
Stephan Zippe: Das hören wir im Gregorianischen Choral, der heute noch als mustergültig für die Kirchenmusik gilt. Vor allem, weil er mit dem vertonten liturgischen Text auf besondere und sehr sensible Weise umgeht. Die feinsten rhythmischen Nuancen stehen immer im Dienst des Wortes. Natürlich müssen die Töne schön sein, aber vor allem muss der Text gut verständlich und erfahrbar sein. Diese Musik war mein persönlicher Zugang zur Kirchenmusik.
Der Gregorianische Choral ist seit langem Ihr Spezialgebiet. Müssen Sie da manchmal auch bekehren? Wie oft hören Sie, das sei doch veraltet und langweilig?
Stephan Zippe: Ja natürlich, oft. Man hat ja heute so viel mehr Möglichkeiten als Einstimmigkeit und lateinischen Text. Wenn man zunächst einmal diesen Anspruch nimmt, dass dies nun die beste Form der Musik ist und ausschließlich gepflegt wird, gibt es zwei Möglichkeiten zu reagieren: Über Wissen – indem man Kenntnisse vermittelt, wie diese Musik funktioniert – oder die ganz bestimmte Stimmung, mit der man jemanden einfangen kann. Diese Musik hat etwas Meditatives, in der Filmmusik wird sie ganz gezielt eingesetzt.
Etwas Älteres können wir heute gar nicht hören, es waren die ersten Noten, aufgeschrieben von Mönchen in Klöstern?
Stephan Zippe: Es ist tatsächlich das erste an Musik, was für uns greifbar ist. Wir wissen, dass schon im 4. Jahrhundert Hymnen getextet wurden, aber nicht, auf welche Melodien. Man geht davon aus, dass eine 100- oder 200-jährige Entwicklung stattgefunden hat, in der der Gregorianische Choral verbreitet wurde von einem Kloster zum nächsten, bis er sich etablierte. Die Ursprünge liegen im Dunkeln. Wir haben erste schriftliche Aufzeichnungen leider erst aus dem 9. Jahrhundert, Texte und rhythmische Feinheiten im 10. Jahrhundert und Töne erst ab dem 11. Jahrhundert.
Wie ging es weiter? Haben Mönche beim Singen experimentiert und den harmonischen Zusammenklang mehrerer Stimmen entdeckt?
Stephan Zippe: So könnte es gewesen sein. Auf jeden Fall folgten die Zweistimmigkeit, die Mehrstimmigkeit – das sogenannte Organum – die klassischen Epochen der Musikgeschichte. Für München sehr bedeutend: Orlando di Lasso, da hatte sich die Mehrstimmigkeit schon etabliert. Dann die Barockzeit, Klassik, Bach, Mozart, die Romantik, Mendelssohn, Reger – bis hin in die zeitgenössische Musik. Vieles könnte man noch hervorheben, aber wir sprechen hier von einer gewaltigen Zeitspanne von mehr als tausend Jahren.
Was man in den Anfängen im Gegensatz zu heute nicht hatte: Die Retrospektive auf andere Epochen. Das sehen wir erst seit Mendelssohn, der als erster auf Bach zurückblickte. Heute haben wir das ganze Spektrum offen. Das ist der Punkt, finde ich, warum Kirchenmusik so attraktiv ist: Weil man aufgefordert ist, die ganze Bandbreite der Stilistik zu pflegen – vom gregorianischen Choral über klassische Messen bis hin zu moderner Musik. Wir wünschen uns von heutigen Komponisten und Kirchenmusik, dass sie nicht nur in der Vergangenheit verhaftet ist, sondern aktuell.
Ist das nicht eine riesige Herausforderung für Komponisten heute? Angesichts all der unterschiedlichen Stile heute einen Nerv zu treffen?
Stephan Zippe: Die Frage ist, ob Kirchenmusik darauf ausgelegt sein muss, einen Nerv zu treffen. Ich denke, man muss sich erst einmal selbst treu bleiben und sagen: Was hat Kirchenmusik für eine Funktion? In erster Linie geht es um Verkündigung.
Die stilistische Vielfalt ist im Kirchenmusikstudium verankert, ebenso wie in der nebenberuflichen C-Ausbildung, die wir hier in der Diözese anbieten. Für Komponisten gilt es, den eigenen Stil zu finden, immer passend zum Anlass. Bei unserem Festival Kinder- und Jugendchorfestival der "Pueri Cantores" zum Beispiel, das im Juli in München stattfindet, sind zwei Drittel der Gesänge neu: Sehr schöne Melodien und ein wesentlicher Beitrag zur modernen Kirchenmusik.
Ein Teil des Mottos für das Festival ist "Vielstimmig für den Frieden".
Stephan Zippe: Das hängt mit dem besonderen Auftrag zusammen, den sich der Chorverband "Pueri Cantores" gegeben hat, als er sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch unter dem Eindruck der Kriegsfolgen gründete. Da zu sagen: Wir bauen auf Völkerverständigung, Begegnung und bitten um den Frieden. Es geht um Gebet in Gesangsform.
Es heißt ja sprichwörtlich: "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder." Aus meiner täglichen Erfahrung kann ich das bestätigen: Wo Menschen miteinander musizieren, ist eher eine positive Stimmung. Untersuchungen zeigen, dass Singen unserer Gesundheit guttut. Mehr Zufriedenheit hat wiederum mehr Gelassenheit gegenüber Mitmenschen zur Folge.
Musik, so wie wir sie heute kennen, ist ohne ihren Ursprung Kirche nicht denkbar, haben Sie erklärt. Und Kirche ohne Musik?
Stephan Zippe: Wenn man einmal absieht von stillen Messen, würde ich sagen: Heute ist Kirche ohne Musik, eine Gemeindemesse ohne Gesang nicht denkbar. Aber das war nicht immer so. Die Kirchenmusik hat früher, auch in ihren Ursprüngen zur Zeit des Gregorianischen Chorals, in ihren geistlichen Zentren funktioniert, in Klöstern und Kathedralen, aber nicht im flachen Land. Mozart wirkte am Dom und hatte eine ganz bestimmte Ausstrahlung, aber das waren dann Leuchtstellen. Mancher reiste weit dafür, weil so etwas nicht in jeder Kirche zu hören war.
Eine Zäsur war 1965 das Zweite Vatikanisches Konzil. Zuvor waren Liturgie und Gottesdienst eigentlich Priestersache, die Musik eher begleitend. Nun ist die versammelte Gemeinde Träger der Liturgie und selber Akteur. Das hat Konsequenzen für die Kirchenmusik: Ich muss Menschen dazu bewegen, innerlich Anteil zu nehmen und nicht mehr nur zuzuschauen. Mitsingen ist eine Form der äußeren Teilhabe, aber bewirkt eben auch das inhaltliche Mitfeiern, die innere Teilnahme.
Die Rolle der Musik hat sich also verändert. Heute gibt es viele hauptberufliche Kirchenmusiker und man hat den Anspruch: Es muss überall gute Kirchenmusik geben, überall muss gesungen werden und die Orgel spielen. Wir durchdringen die Gesellschaft damit mehr oder weniger.
Es verhält sich also genau umgekehrt, als viele denken: Kirchenmusik ist kein angestaubtes Kapitel, ihre Blütezeit liegt nicht in der Vergangenheit – ganz im Gegenteil?
Stephan Zippe: Unbedingt. Was diese Beteiligung der Menschen angeht, erfüllt sie einen großen Auftrag. Wenn wir mal überlegen: An welchen Stellen wird heute noch gemeinschaftlich gesungen, regelmäßig und im öffentlichen Raum? Die Nationalhymne bei Fußballspielen ist ein Beispiel. Oder im Bierzelt – obwohl ich nicht weiß, ob das noch Gesang ist. (lacht)
In der Erzdiözese München und Freising haben wir um die 27.000 ehrenamtliche Sängerinnen und Sänger. Gepflegtes miteinander Singen ist im Gottesdienst fest verankert, dort erleben wir das noch gemeinsam. Das sehe ich als großen Beitrag zur musikalischen Prägung der Gesellschaft.
Zur Person: Prof. Stephan Zippe ist seit 2019 Diözesanmusikdirektor der Erzdiözese München und Freising. Nach seinem Studium in München war er viele Jahre als Kirchenmusiker in Moosburg tätig und wurde 2006 Professor für Gregorianik an der Musikhochschule in München. Stephan Zippe engagiert sich intensiv für Pflege und Weiterentwicklung des Gregorianischen Chorals, unter anderem als Vorsitzender der deutschsprachigen Sektion der Associazione Internazionale Studi di Canto Gregoriano (AISCGre) und Mitherausgeber des Graduale Novum.