Erzbistum trauert um emeritierten Papst und ehemaligen Erzbischof von München und Freising Benedikt XVI.

Gebürtiger Oberbayer hatte das Erzbistum von 1977 bis 1982 geleitet
Kardinal Marx: „Großer Papst, der sein Hirtenamt stets mit Freimut und starkem Glauben ausübte“
München, 31. Dezember 2022 Das Erzbistum München und Freising trauert um den emeritierten Papst und ehemaligen Münchner Erzbischof Benedikt XVI., der am 31. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren in Rom gestorben ist. Der aus dem oberbayerischen Marktl stammende Joseph Ratzinger hatte das Erzbistum von Mai 1977 bis Februar 1982 geleitet. Als Papst hatte er acht Jahre lang das höchste Amt in der katholischen Kirche inne. Mit seinem Denken hat er Kirche und Theologie nachhaltig geprägt. Sein Wort fand weltweit Aufmerksamkeit auch bei Angehörigen anderer Religionen, in Politik und Gesellschaft.
 
Zum Tod von Benedikt XVI. erklärt der Erzbischof von München und Freising und der Vorsitzende der Freisinger Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx:
 
Mit großer Trauer haben wir die Nachricht erhalten, dass Papst em. Benedikt XVI. heute gestorben ist. Benedikt XVI. war ein großer Papst, der sein Hirtenamt stets mit Freimut und starkem Glauben ausübte. Als Theologe prägte und prägt er die Kirche lange und nachhaltig. Dem Erzbistum München und Freising war er, ob als Priester, Professor, Erzbischof, Kardinal oder Papst, stets eng verbunden. Das durfte ich in vielen persönlichen Begegnungen immer wieder erfahren. Wir trauern um einen treuen Zeugen der Liebe Gottes und einen bedeutenden Lehrer der Kirche, dessen Verkündigung bereits zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof weit über die Grenzen des Erzbistums hinaus strahlte. Die christliche Prägung Bayerns und die lebendigen Ausdrucksformen der Frömmigkeit zu fördern, war ihm stets ein wichtiges Anliegen. Viele Gläubige erinnern sich noch an gute Begegnungen mit dem Erzbischof bei Firmungen in den Pfarreien oder zu anderen Anlässen. Vor allem der Besuch Papst Benedikts XVI. in seinem ehemaligen Erzbistum im September 2006 erfüllt immer noch viele Menschen mit Freude und wohl auch ein wenig Stolz. In Joseph Ratzinger vereinten sich Intellektualität und eine tiefe, ehrliche Frömmigkeit. Dabei blieb er stets bescheiden und hat immer das Amt, nicht die Person in den Vordergrund gestellt. Es ging ihm nicht um Ansehen für seine Person oder die Erweiterung von Macht, sondern er strebte immer danach, die Aufgabe, die Gott ihm aufgetragen hatte, bestmöglich und mit ganzer Kraft zu erfüllen. Wir sind ihm zutiefst dankbar für seinen jahrzehntelangen Einsatz, seine exzellente Theologie und sein beeindruckendes Lebens- und Glaubenszeugnis. Sein Vermächtnis wird weiterwirken. Das Erzbistum München und Freising und die Freisinger Bischofskonferenz werden die Erinnerung an den emeritierten Papst Benedikt XVI. lebendig halten und für ihn beten.“
 
Der am 16. April 1927 in Marktl im oberbayerischen Landkreis Altötting, Diözese Passau, als Sohn eines Gendarmen und einer Köchin geborene Ratzinger besuchte das erzbischöfliche Studienseminar St. Michael in Traunstein. 1941 mit anderen Seminaristen zwangsweise in die Hitlerjugend aufgenommen, wurde Ratzinger im Alter von 16 Jahren als Luftwaffenhelfer nach München geschickt. Im Dezember 1944 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Sein Abiturzeugnis erhielt er 1945 vom Traunsteiner Chiemgau-Gymnasium. Ratzinger studierte Philosophie und Theologie in Freising und München und wurde am 29. Juni 1951 in Freising zum Priester geweiht. Er wirkte als Aushilfspriester in der Pfarrei St. Martin in München-Moosach und als Kaplan in der Pfarrei Heilig Blut im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Von 1952 bis 1957 lehrte er in Freising zunächst im Erzbischöflichen Klerikalseminar und anschließend an der Philosophisch-Theologischen Hochschule. 1953 promovierte er zum Doktor der Theologie. Nach seiner Habilitation 1957 war Ratzinger als Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising tätig, anschließend lehrte er Fundamentaltheologie an der Universität Bonn sowie Dogmatik und Dogmengeschichte an den Universitäten Münster, Tübingen und Regensburg. Als offizieller Konzilstheologe nahm er am Zweiten Vatikanischen Konzil teil.
 
Im März 1977 berief Papst Paul VI. Ratzinger als Nachfolger des verstorbenen Kardinals Julius Döpfner zum Erzbischof von München und Freising. Am 28. Mai wurde er zum Bischof geweiht, einen Monat später zum Kardinal ernannt. Ratzingers Zeit als Erzbischof von München und Freising war besonders stark geprägt von seiner Verkündigung. In Predigten, Hirtenbriefen und zahlreichen anderen Publikationen behandelte er zentrale Glaubensfragen und beleuchtete auch gesellschaftliche Themen stets aus Sicht der kirchlichen Tradition und des Evangeliums. Als „Mitarbeiter der Wahrheit“, so das Wort aus dem dritten Johannesbrief (3 Joh 8), unter das Ratzinger sein bischöfliches Wirken gestellt hatte, habe er während seiner Zeit als Erzbischof „in der Gemeinschaft mit Mitarbeitern“ sein Charisma einbringen und mit seiner theologischen Erfahrung und Kompetenz daran mitwirken wollen, die Kirche zu lenken, erklärte er im Rückblick auf diese Zeit in seinem Buch „Salz der Erde“.
 
Während seiner Zeit als Erzbischof bezog Ratzinger gleichermaßen Stellung zu seelsorglichen wie auch kirchen- oder gesellschaftspolitischen Themen in großer Vielfalt. Besonderen Wert legte er auf die Marienverehrung und die Bewahrung bayerischer Kultur und Frömmigkeit und der christlichen Prägung Bayerns. In Verantwortung für die Würde des Menschen setzte sich Ratzinger besonders für behinderte Menschen, Schwangere in Notsituationen und Obdachlose ein und engagierte sich für den unbedingten Schutz des Lebens. Mit einer stets gründlichen und nahezu akribischen denkerischen Durchdringung so vieler Fragen, die auch das Glaubensleben der Menschen berührten, war Ratzinger ein gefragter Gesprächspartner und seine Äußerungen wurden ernstgenommen und fanden Gehör, sowohl zustimmend als auch ablehnend.
 
Ein besonderes Anliegen war ihm die Ökumene, was sich auch in der Pflege intensiver ökumenischer Kontakte zeigte. Zu dem damaligen evangelisch-lutherischen Landesbischof Johannes Hanselmann stand er in gutem theologischem, geistlichem und freundschaftlichem Austausch. Auch mit den Vertretern der orthodoxen Kirche stand Ratzinger im intensiven Dialog.
Ebenso bewegte ihn in besonderer Weise der interreligiöse Dialog, vor allem mit den jüdischen Glaubensgeschwistern. Mehrfach, so beim Gedenken an die Reichspogromnacht, die sich 1978 zum 40. Mal jährte, erinnerte der Erzbischof an die Zeit und die Folgen des Nationalsozialismus und mahnte zum Frieden und zur Abwehr von Hass und totalitären Ideologien.
 
Den Menschen in seinem Erzbistum begegnete der Erzbischof herzlich und verständnisvoll und er ist bis heute vielen Menschen in guter Erinnerung. Immer wieder nutzte er Möglichkeiten zum Gespräch und zur Begegnung. Für den zuvor eher akademisch geforderten Theologen stellte die Verantwortung für die Leitung des Erzbistums eine Herausforderung dar, die er wohl wissend um „die harte Arbeit des Alltags“, wie er es selbst zu Beginn seines Dienstes einmal formulierte, annahm. Der Kardinal weihte in seiner Zeit als Erzbischof sieben Pfarrkirchen und zwei Kapellen im Erzbistum: die Kirchen St. Bonifatius in Haar (Landkreis München), St. Albertus Magnus in Ottobrunn  (Landkreis München), St. Stephan in München-Sendling, St. Ignatius in München-Hadern, Maria Königin in Baldham (Landkreis Ebersberg), St. Elisabeth von Thüringen in Esting (Landkreis Fürstenfeldbruck) und St. Monika in München-Perlach sowie die Kapelle des Altenheims St. Michael der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim und die Kapelle Maria Heimsuchung auf der Zugspitze. Mehr als 9.000 Gläubigen spendete er das Sakrament der Firmung. Seine Amtsgeschäfte und gottesdienstlichen Verpflichtungen führten den Erzbischof auch immer wieder nach Freising; so spendete er im Freisinger Mariendom regelmäßig das Sakrament der Priesterweihe und feierte dort auch das Fest zu Ehren des Hl. Korbinian. Auch in seiner Funktion als Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenz hielt er sich häufig in Freising auf. Er setzte sich für die Erhebung des Freisinger Doms zur Konkathedrale des Erzbistums ein, die 1983 vollzogen wurde. Die Erinnerung an seine Priesterweihe, die er gemeinsam mit seinem Bruder Georg Ratzinger am 29. Juni 1951 im Dom zu Freising empfing, blieb für Josef Ratzinger stets lebendig und verband ihn aufs Engste mit dem Erzbistum und dem Dom zu Freising. Das wurde in ganz herausragender Weise deutlich anlässlich des 60. Jahrestages der Priesterweihe der Brüder Joseph und Georg Ratzinger, zu dem das Erzbistum München und Freising 2011 gemeinsam mit dem Bistum Regensburg und dem „Institut Papst Benedikt XVI.“ eine Festakademie veranstalte, die dem ehrenden Rückblick diente und zugleich, ganz im Sinne von Joseph Ratzinger, nach der Bedeutung des priesterlichen Lebens für die Gegenwart fragte. Auch in Rom wurde dieses besondere Jubiläum gefeiert, in besonders festlicher Weise bei einer Hl. Messe im Petersdom am Hochfest der Apostel Petrus und Paulus, zu der auch einige Kurskollegen nach Rom reisten. In den Mittelpunkt seiner damaligen Predigt stellte Papst Benedikt XVI. das Wort aus dem Johannes-Evangelium „Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde.“ (vgl. Joh 15,15) und legte es als Trost und Verheißung zugleich aus: „Der Hirt ruft die Seinen beim Namen. Er kennt mich mit Namen. Ich bin nicht irgendein anonymes Wesen in der Unendlichkeit des Alls. Er kennt mich ganz persönlich. Kenne ich ihn? Die Freundschaft, die er mir schenkt, kann nur bedeuten, dass auch ich ihn immer mehr zu erkennen versuche; dass ich in der Schrift, in den Sakramenten, in der Begegnung des Betens, in der Gemeinschaft der Heiligen, in den Menschen, die auf mich zukommen und die er mir schickt, immer mehr ihn selber zu erkennen versuche.“ Diese Grundhaltung des priesterlichen Lebens und Dienstes hat Joseph Ratzinger in seinem Wirken getragen.
 
Neben seinen umfangreichen diözesanen Verpflichtungen war Ratzinger als Münchner Erzbischof Mitglied der Vollversammlung und des Ständigen Rates sowie von Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz. Er gehörte der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands an und war Vorsitzender der Konferenz der bayerischen Bischöfe, die sich 1980 den Titel Freisinger Bischofskonferenz gab. Wichtige Entscheidungen der Freisinger Bischofskonferenz während Ratzingers Amtszeit waren die Verabschiedung der Richtlinien der „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Bayern“, der Aufbau einer Impulsstelle für Frauenseelsorge in Bayern und die Gründung des Katholischen Schulwerks in Bayern. Nicht zuletzt ist es sein großes Verdienst, dass die bereits bestehende „Kirchliche Gesamthochschule“ in Eichstätt 1980 zur Katholischen Universität erhoben wurde. Als Kardinal wirkte Ratzinger darüber hinaus als Mitglied von verschiedenen Kongregationen der römischen Kurie. Als Mitglied des Kardinalskollegiums nahm Ratzinger 1978 an den Konklaven zur Wahl von Papst Johannes Paul I. und Papst Johannes Paul II. teil. Ein bewegendes Ereignis für Ratzinger als Erzbischof von München und Freising und die gesamte Region war der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Erzbistum während seiner Pastoralreise nach Deutschland im November 1980.
 
Im November 1981 ernannte Papst Johannes Paul II. Ratzinger zum Präfekten der Glaubenskongregation im Vatikan. Obwohl er dem Ruf nach Rom zunächst verhalten gegenübergestanden hatte, ließ der Erzbischof sich, nach fast fünf Jahren in München, in den Dienst der Weltkirche stellen. Am 15. Februar endete offiziell seine Amtszeit als Erzbischof. Am 28. Februar verabschiedete sich Ratzinger mit einem Festgottesdienst im Münchner Liebfrauendom und einer Andacht auf dem Marienplatz von seinem Erzbistum. Bei einem Festakt im Herkulessaal der Residenz dankten Vertreter aus Kirche, Politik und Gesellschaft dem scheidenden Erzbischof.
 
Joseph Ratzinger erhielt in Deutschland und insbesondere in Bayern zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, unter anderem das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, den Bayerischen Verdienstorden und den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst.
Im Juni 2020 kehrte Joseph Ratzinger noch einmal zu einem privaten Besuch nach Bayern zurück, als er seinen schwer erkrankten Bruder Georg Ratzinger besuchte, bevor dieser wenige Tage später im Alter von 96 Jahren starb.
 
Auch nach seinem Weggang aus München blieb Ratzinger seiner Heimat bis zuletzt tief verbunden. „Mein Herz schlägt bayerisch“, antwortete er, mehr als ein Jahr nach seiner Wahl zum Papst, auf dem Weg nach Bayern im September 2006 auf die Frage eines Journalisten, ob er Heimweh habe. „Es ist so viel Erinnerung in meiner Seele, dass ich in den Landschaften der Erinnerung immer herumwandern kann, mich gar nicht so weit weg fühle.“ Bei dieser Pastoralreise unter dem Leitwort „Wer glaubt ist nie allein“ besuchte Papst Benedikt XVI. auch das Erzbistum München und Freising und traf in der Landeshauptstadt unter anderem mit dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Karl Lehmann, dem amtierenden Münchner Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter und dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zusammen. Auf dem Marienplatz an der Mariensäule, wo er sich im Februar 1982 als scheidender Erzbischof von den Gläubigen verabschiedet hatte, sprach er auch dieses Mal ein Gebet und feierte im Münchner Liebfrauendom eine Vesper. Auf dem Messegelände in München-Riem zelebrierte er einen Gottesdienst, an dem mehr als 250.000 Gläubige teilnahmen. Den Abschluss seines Besuchs bildete nach Stationen unter anderem in Altötting und Regensburg ein Gottesdienst im Freisinger Mariendom.
 
Während seines Pontifikates kam er zwei weitere Male nach Deutschland: zum Weltjugendtag in Köln im August 2005 und bei einem offiziellen Besuch 2011, bei dem er eine wegweisende grundsatzpolitische Rede vor dem Deutschen Bundestag hielt.
 
Im November 2007 ernannte Benedikt XVI. Reinhard Marx, damals Bischof von Trier, als Nachfolger von Kardinal Friedrich Wetter zum Erzbischof von München und Freising. Während der Amtszeit von Papst Benedikt XVI. und auch nach seiner Emeritierung kam es zu weiteren Begegnungen zwischen ihm und Vertretern des Erzbistums, unter anderem bei einer Pilgerreise der Erzdiözese zur Feier seines 85. Geburtstags und einem Besuch einer Delegation um Kardinal Marx im Sommer 2012. Zum Abschluss eines bayerischen Ehrenabends für Papst Benedikt XVI. in Castel Gandolfo bedankte er sich mit berührenden Worten bei allen Pilgern: „Es war einfach schön, in Castel Gandolfo und zugleich in Bayern zu sein. Ich war richtig dahoam […] Wir wissen es aus dem Glauben und wir sehen es jeden Tag: die Welt ist schön und Gott ist gut. Und dadurch, dass er als Mensch unter uns hereingetreten ist, mit uns leidet und liebt, wissen wir es endgültig. Ja, Gott ist gut und es ist gut, ein Mensch zu sein.“
 
Ratzinger war ein großer Theologe und Lehrer der Kirche. Davon zeugen ungezählte Schriftstücke, und vor allem ist es dem Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.“ zu verdanken, dass seine zahlreichen Schriften in einer anspruchsvollen Werkedition neu vorgelegt werden. In seinem viel beachteten dreibändigen Werk „Jesus von Nazareth“, das er auch als persönliches Glaubenszeugnis verstand, zeigte Ratzinger sich als christuszentrierter Denker und gab entscheidende Anstöße für die Jesusforschung und die Verbindung von historisch-kritischer und christologischer Exegese. Bereits 1968 hatte er mit seinem Buch „Einführung in das Christentum“ grundlegende Kerngedanken seines theologischen Denkens vorgelegt.
 
Ein zentraler Aspekt seiner Arbeit war der Versuch einer Versöhnung von Glaube und Vernunft, mündend in der Erkenntnis, dass beide aufeinander angewiesen seien. Einer „Diktatur des Relativismus“, die er während seiner Amtszeit als Papst wiederholt in der Gesellschaft konstatierte, stellte er eine auf fundamentalen Rechten und christlichen Werten beruhende Ordnung gegenüber. Das Leben und Zusammenleben der Menschen, so seine Überzeugung, gelinge nur in der Ausrichtung auf Christus. Als ein Schlaglicht sei hier nur sein viel beachteter Vortrag als Präfekt der Glaubenskongregation 1999 in Paris an der Sorbonne erwähnt, wo er deutlich machte, dass für ihn das Christentum nicht die Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln sei, sondern vernunftgeleitete Aufklärung. Philosophie und Theologie im Dialog mit wissenschaftlichen Erkenntnissen anderer Disziplinen waren ihm stets ein Anliegen. Das Zueinander von Glaube und Vernunft war für Ratzinger nicht nur ein theoretisches Denkgebilde, sondern war für ihn Ausdruck einer Haltung des reflektierten Glaubens, der sich ohne Angst jedem Denken stellen kann.
 
Deutlich werden diese Positionen auch in seinen drei Enzykliken, die die theologischen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe entfalten: In „Deus caritas est“ (Gott ist Liebe) betont er die zentrale Stellung des christlichen Liebesgebots im Ringen um eine gerechte und menschenwürdige Welt. Die Enzyklika „Spe salvi“ (Auf Hoffnung hin gerettet) stellt das theologische und biblische Konzept der Hoffnung ins Zentrum der Betrachtungen, das auch über einen rein innerweltlichen Fortschrittsglauben hinaus geht und die eschatologische Hoffnung des christlichen Glaubens betont. „Caritas in veritate“ schließlich (Liebe in Wahrheit) plädiert für eine „Kultur der Liebe“, gerade auch angesichts von Globalisierungsfragen und einer beherrschenden kapitalistischen Logik.
Die noch von Benedikt XVI. begonnene Enzyklika „Lumen fidei“ über den Glauben wurde von Papst Franziskus ergänzt und 2013 veröffentlicht. Auch das ist eine wirkliche Neuerung in der Geschichte des Papsttums, die deutlich macht, wie sehr Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus bei allen Unterschieden auch die Kontinuität wahrten. Dieses Miteinander des amtierenden und des emeritierten Papstes wurde in vielen Äußerungen und persönlichen Begegnungen sichtbar.
 
Sein Pontifikat stellte Benedikt XVI. in die Linie seines Vorgängers Johannes Paul II., dessen geistliches und geistiges Erbe er fortsetzen wollte. Als „demütiger Mitarbeiter im Weinberg“, wie er sich selbst am Tag seiner Wahl bezeichnete, stellte er sich seiner Aufgabe. Zu seinen wichtigsten Anliegen zählten die Neuevangelisierung, die Feier der Liturgie und die Erschließung des Wortes Gottes für die gegenwärtige Zeit.
Wie Johannes Paul II. traf Benedikt XVI. führende Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in vielen Ländern der Erde. Zentral war dabei für ihn immer auch die Frage des Stellenwerts und der Bedeutung von Gott in der Gesellschaft. In einer viel beachteten Grundsatzrede äußerte er sich 2008 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu Freiheit und Verantwortung des Menschen und dem Beitrag der Religionen zur Schaffung einer menschlicheren Welt für alle und betonte die Bedeutung der Menschenrechte, einschließlich der Religionsfreiheit.
 
Ratzinger setzte sich auch als Papst mit Nachdruck für die Einheit der Christen und für den interreligiösen Dialog ein. In der Ökumene erreichte er vor allem Schritte der Annäherung mit der orthodoxen Kirche. Am Rande des Weltjugendtags in Köln traf er mit Vertretern der evangelischen und der orthodoxen Kirche sowie mit Vertretern muslimischer Gemeinden zusammen und besuchte als erster Papst eine deutsche Synagoge. Sein Besuch in Deutschland 2011 führte ihn auch in das evangelische Augustinerkloster in Erfurt. Immer wieder betonte er die große Bedeutung des Dialogs der Religionen und Kulturen für das friedliche Zusammenleben der Menschen. Bei einer Reise in das Heilige Land 2009 rief er alle zu einem konstruktiven und dauerhaften Einsatz für den Frieden auf und wies auf die gemeinsame Wurzel von Juden und Christen hin. Er gedachte der Opfer des Holocaust und mahnte, das Leid der Juden nie zu leugnen oder zu vergessen, ein solches Verbrechen dürfe sich niemals wiederholen.
 
Zu den großen geistlichen Ereignissen während seiner Amtszeit zählt das „Jahr des Glaubens“ ab Oktober 2012, das er ausgerufen hatte. Damit verbunden war eine Bischofssynode, die sich mit Fragen der Neuevangelisierung beschäftigte und der zwei weitere Bischofssynoden unter seinem Pontifikat vorausgingen, die einmal die Eucharistie ins Zentrum der Überlegungen stellten (2005) und sodann die Verkündigung des Wortes Gottes (2008). Benedikt XVI. führte gleich 2005 als Neuerung ein, dass es während einer Bischofssynode freie Diskussionen gab und stärkte damit das synodale Element in der Weltkirche ganz grundlegend.
 
Während seines Pontifikates stand Benedikt XVI. auch in der besonderen Herausforderung, die katholische Kirche in der schweren Krise zu führen, die das Bekanntwerden sexuellen Missbrauchs durch Priester und kirchliche Mitarbeiter in aller Deutlichkeit aufzeigte. Er traf sich mehrmals mit Opfern sexuellen Missbrauchs; etwa 2008 in den USA und auch während seines Besuches in Deutschland. Im Herzen erschüttert reagierte er auf das Leid, das diese Menschen im Raum der Kirche erlebt hatten und das Unrecht, das ihnen widerfahren war. Im März 2010 schrieb Benedikt XVI. einen weltweit beachteten Hirtenbrief an die Katholiken in Irland, der Ausdruck seiner Hirtensorge war und vor allem das Leid der Opfer in den Blick nahm und die Sünden der Verantwortlichen benannte. Er erkannte auch deutlich, dass die Frage des sexuellen Missbrauchs in der Kirche ganz entscheidend sein würde als Kriterium für die Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Vertreter in der Verkündigung des Evangeliums. Bei einer Hl. Messe zum Abschluss des Priesterjahres im Juni 2010 entschuldigte sich Benedikt XVI. öffentlich bei den Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester und kirchliche Mitarbeiter und versprach, alles zu tun, um dies in Zukunft zu verhindern. Das Bekanntwerden sexuellen Missbrauchs in der Kirche ist zweifelsohne das schwierigste Thema, das das Pontifikat Benedikt XVI. bestimmte. Im Zuge eines von der Erzdiözese München und Freising in Auftrag gegebenen externen Gutachtens zu sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising im Zeitraum von 1945 und 2019 sah sich Benedikt XVI. mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert, die dieser in einer vom Vatikan veröffentlichten Stellungnahme zurückwies. Benedikt XVI. sah sich in diesem Zusammenhang auch mit einer Klage vor dem Landgericht Traunstein konfrontiert. Die sogenannte Feststellungsklage richtete sich neben dem damaligen Erzbischof von München und Freising auch gegen einen mehrfach wegen Missbrauchs verurteilten Priester sowie die Erzdiözese München und Freising und Ratzingers Nachfolger im Amt des Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter.
 
Mit Blick auf sein Alter und aus gesundheitlichen Gründen erklärte Benedikt XVI. im Februar 2013 in einem historisch und kirchlich bedeutsamen Schritt seinen Rücktritt vom Papstamt. Bei seiner Verabschiedung kündigte er an, sich in Stille der Betrachtung und dem Gebet für das Wohl der Kirche und der Menschheit widmen zu wollen. Als emeritierter Papst lebte er im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae. Ab 2014 nahm er in Absprache mit seinem Nachfolger Papst Franziskus wieder an einzelnen Veranstaltungen des öffentlichen katholischen Lebens teil, darunter der Heiligsprechung seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Johannes XXIII. im April 2014. (ps)