Denkwerk-Projekt: „Die letzten und die ersten Tage.Fremdsicht und Eigenwahrnehmung am Ende des Zweiten Weltkrieges.“

Forschungsstand und inhaltliche Begründung des Themas
Dr. Ulrike Natzer (geb. Stoll)
(Ausschnitt aus dem Bewerbungsantrag bei der Robert Bosch Stiftung, November 2007)

Das Ende des Zweiten Weltkrieges führte seit März 1945 Soldaten der Allierten in den süddeutschen Raum, vor allem amerikanische Einheiten nach Bayern. Erstmals seit den napoleonischen Kriegen standen wieder fremde Soldaten im Land. Die unmittelbare Begegnung mit zahlreichen Fremden vor Ort, von Siegern mit Besiegten, von Menschen in den Dörfern und Städten mit fremden Soldaten und bald Besatzungskräften, aber auch mit Evakuierten, befreiten Gefangenen, Displaced Persons sowie Flüchtlingen und Vertriebenen wurde über längere Zeit Alltag. (Vgl. Klaus D. Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, 1996; M Broszat, u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988).

Seit in den späten 1970er Jahren die Akten der Amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS) verfilmt und damit in deutschen Archiven zugänglich wurden, hat die Forschung über die amerikanische Besatzungszeit in Deutschland und besonders in Bayern starke Impulse bekommen. (Vgl. Christoph Weisz, OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949, München 1994). Vielfach wurden dabei auch in Regionalstudien das Kriegsende, die Lebensverhältnisse der Menschen, die Entnazifizierung, Reeducation, Demokratisierung und Wiederaufbau des politischen Lebens untersucht und dargestellt.

Erstaunlich wenig Interesse hat dagegen eine differenzierte Analyse der gegenseitigen unmittelbaren Wahrnehmung vor Ort in Dörfern und Städten, und dies vor dem Hintergrund spezifischer Stereotypen und kultureller Deutungsmuster sowie der besonderen Lage in der Krisensituation bei Kriegsende, gefunden. Das gilt sowohl für spezifische Gruppen der deutschen Bevölkerung, als auch - und dies besonders - für die Fremden im Land.
Dieser Zugang bietet freilich beachtliche Erkenntnismöglichkeiten und Innovationspotential. Da das Kriegsende für die Menschen auf sehr unterschiedliche Art und Weise erfahrbar wurde – je nach der Situation vor Ort und je nach Art und Weise, wie die einheimische Bevölkerung und die amerikanischen Besatzer aufeinander trafen – sind im breiter angelegten örtlichen Vergleich differenzierte Ergebnisse zu Fremd- und Eigenwahrnehmung zu erwarten.

Fragen der Wahrnehmung haben in den Geschichts- und Geisteswissenschaften einerseits im Zusammenhang mit der „Neuen Kulturgeschichte“ aus methodischen Gründen und damit wissenschaftsimmanent stark wachsende Bedeutung erlangt. Andererseits gewannen im Kontext von Internationalisierungs-, Globalisierungs- und Migrationsprozessen die unmittelbare Begegnung mit Fremden und die entsprechenden Prämissen von Fremd- und Eigenwahrnehmung herausragende gesellschaftliche Relevanz.
Mit dem Projekt soll die Eigenwahrnehmung und die wechselseitige Fremdwahrnehmung von Menschen in Südbayern und von amerikanischen Besatzungssoldaten herausgearbeitet werden. Dazu soll einerseits der bisher oft pauschalisierend verwendete Begriff „Amerikaner“ ausdifferenziert werden. Die unterschiedliche Herkunft und soziale Prägung der Besatzer soll mit Blick auf die Fremd- und Eigenwahrnehmung berücksichtigt werden.

Andererseits soll mit Blick auf die Menschen in Südbayern beachtet werden, dass sie – so wird schon von den Besatzern oft konstatiert – durch eine starke kulturelle Identität geprägt erschienen, die nicht zuletzt auch von der Verhaftung im katholischen Milieu herrührte. Die daraus resultierenden Prämissen gegenseitiger Wahrnehmung in der face-to-face Situation wirft über das regionale Exempel hinaus allgemeine Fragen auf, insbesondere ob bei gefestigten kulturellen Identitäten die Wahrnehmung und letztlich Akzeptanz von Fremden eher positiv geleitet oder eher belastet wird. Werden in der direkten Begegnung vor Ort Fremd- und Eigenwahrnehmung leichter modifiziert oder eher Stereotypen affirmativ bestätigt?

Fragestellung, Methoden und Quellen für das Projekt lassen eine Zusammenarbeit mit der Amerikanistik in kulturanthropologischer Ausrichtung sowie mit der Kirchengeschichte sinnvoll erscheinen. Die Amerikanistik ermöglicht eine differenzierte Analyse von Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie sozialem Hintergrund der Besatzungssoldaten. Aus dem kirchlichen Umfeld stammen wichtige lokale Quellen für die oben aufgeworfene Fragestellung, die Einmarschberichte der Katholischen Priester der Erzdiözese München-Freising, die 2005 ediert wurden. Am Lehrstuhl für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität mit der spezifischen Kompetenz im landes-, regional- und lokalgeschichtlichen Zugriff wurden wiederholt Arbeiten zur amerikanischen Besatzung in Bayern angefertigt, unter anderem auch zur Berichterstattung der amerikanischen Besatzungsbehörden vor Ort. In jüngster Zeit wurden verschiedene Examensarbeiten auch zu entsprechenden Wahrnehmungsprozessen eingereicht (z.B. Sandra Bisping „Öffnung zur Welt? Begegnungen zwischen Einheimischen und Fremden im Landkreis Mühldorf am Inn in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945-Anfang 1950er Jahre), 2006).