Erklärung von Kardinal Marx zur Veröffentlichung des Dritten Zwischenberichts in der Diözese Trier

München, 30. Oktober 2025. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, gibt zur heute erfolgten Veröffentlichung des Dritten Zwischenberichts des Projekts „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sowie hilfs- und schutzbedürftigen erwachsenen Personen durch Kleriker/Laien im Zeitraum von 1946 bis 2021 im Verantwortungsbereich der Diözese Trier: eine historische Untersuchung“ die folgende Erklärung ab:
 
„Zu dem heute, 30.10.2025, in Trier veröffentlichten Dritten Zwischenbericht, der auch meine Amtszeit als Bischof von Trier untersucht hat, möchte ich Stellung nehmen:
 
Meine Amtszeit als Bischof von Trier begann mit der Amtseinführung am 01. April 2002 und endete mit der Amtsübernahme als Erzbischof von München und Freising am 02. Februar 2008. Als neu ernannter Bischof in einem mir unbekannten Bistum habe ich 2002 zunächst alle Mitarbeiter, gerade auch in leitenden Positionen, übernommen, um mich sukzessive mit dem Bistum Trier vertraut machen zu können.
 
Es ist für mich selbstverständlich, dass ich – nach den externen Gutachten für die Erzdiözese München und Freising (2010 und 2022) – auch für meine Amtszeit als Bischof von Trier zur Aufklärung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Missbrauch beitragen will. Deshalb danke ich der UAK im Bistum Trier und den Autoren der Studie ausdrücklich, dass dieser Zeitraum erforscht wurde. Da ich keinen Einblick in das Archivgut meiner Trierer Amtszeit habe, kann ich alles, was ich dazu beitragen kann, nur aufgrund meiner Erinnerung tun.
 
Das gilt nach intensiver Reflexion insbesondere für die in diesem Zwischenbericht bezifferten möglichen Fälle meiner Trierer Amtszeit und die Anzahl der Fälle, die mir bekannt gewesen sein sollen. Ich kann mich daran im Einzelnen leider nicht erinnern. Alles, was mir bis zu diesem Tag erinnerlich ist, habe ich dem Forschungsteam nach bestem Wissen und Gewissen mitgeteilt.
 
Zu in der Kurzfassung und im Zwischenbericht benannten Versäumnissen und Fehlern möchte ich im Einzelnen folgende Punkte aufgreifen:
 
1.       Mir ist nicht erinnerlich, dass mich Betroffene während meiner Trierer Amtszeit um ein persönliches Gespräch gebeten hätten. Ich mag mich aber täuschen. Wie ich schon mehrfach gesagt habe: Wir alle, auch ich, waren damals nicht ausreichend sensibel und sind nicht aktiv und systematisch auf Betroffene, gerade im Blick auf die Vergangenheit, zugegangen, haben uns nicht angemessen in ihre Perspektive hineinversetzt.
 
2.       Wie im Zwischenbericht dargestellt, wurde mir zu Beginn meiner Amtszeit als Bischof von Trier keine Übersicht über bis dahin ggf. bekannte Missbrauchsfälle übergeben. Es kam mir damals auch nicht in den Sinn, danach zu fragen.
 
3.       Anzeigepflicht: Der Fokus richtete sich nach den Leitlinien darauf, Beschuldigte zur Selbstanzeige zu bewegen. Im Rückblick ist klar, dass das keine angemessene Vorgehensweise war. Auch wenn es keine Anzeigepflicht gibt, haben wir uns seit geraumer Zeit auch in der Erzdiözese München und Freising selbst dazu verpflichtet. Eine Herausforderung dabei bleibt, vor allem das Wohl von Betroffenen zu wahren. Die damaligen Möglichkeiten hinsichtlich der Anzeigepflicht und Sanktionierung (inkl. sog. „Rom-Meldung“) empfinde ich aus heutiger Sicht mindestens als nicht hinreichend klar.
 
4.       Forensische Gutachten: Die Leitlinien von 2002 waren der Orientierungspunkt für unser Handeln, und dazu gehörte auch, dass es ohne aktuelles forensisches Gutachten keinen pastoralen Einsatz von Missbrauchsbeschuldigten und -tätern geben kann. Ich halte deshalb fest, dass ich demgemäß darum gebeten habe und davon ausgegangen bin, dass entsprechend gehandelt wird. Das geschah wahrscheinlich nicht im Blick auf sog. „Altfälle“, sofern sie mir damals überhaupt bekannt waren. Und es geschah ggf. auch nicht, wenn kein pastoraler Einsatz mehr vorgesehen war. Im Einzelfall kann ich das jedenfalls nur aus der Erinnerung nicht mehr genau sagen. Heute bewerte ich die Aussagekraft der Gutachten sicher kritischer als damals.
 
5.       Sanktionierung und Aufsicht: Präzise und nachvollziehbare Auflagen waren bei Sanktionierungen in diesen Jahren sicher noch unzureichend, auch im Sinne einer ausreichenden Aufsicht.
 
6.       Fall K.: Ich kann mich nicht daran erinnern, persönlich mit dem Fall K. befasst worden zu sein.
 
7.       Fall J.: Zu dem exemplarisch geschilderten Fall J. halte ich daran fest, dass ich 2004 in einem Gespräch mit J. von diesem nicht über seine Missbrauchstäterschaft informiert wurde. Davon habe ich erst als Erzbischof von München und Freising erfahren durch ein Schreiben von J. selbst, das dieser am 09.03.2010 an den damaligen Beauftragen der Erzdiözese München und Freising für Fragen sexuellen Missbrauchs schickte und das nach eigenen Angaben von J. auch von ihm selbst an Dr. Scherschel geschickt worden sei. In der Folge dieses Schreibens wurde in der Erzdiözese München und Freising ein Dekret gegen J. erlassen (29.03.2010) und die Inkardinationsdiözese Trier wurde umgehend informiert.
 
Ich war sehr gerne Bischof von Trier. Umso mehr schmerzt es mich, dass ich erkennen muss, in dieser Verantwortung nicht allen Menschen gerecht geworden zu sein, die meiner bischöflichen Sorge anvertraut waren. Durch meinen Wechsel nach München konnte ich das im Bistum Trier nachvollziehbarerweise auch nicht wieder gut machen durch Aufarbeitung, Prävention und konsequentes Handeln in Betroffenenperspektive.
 
Zu den zentralen Lernfeldern gehört für mich, dass das „Verfahren zur Anerkennung des Leids“ zwar wichtig ist für viele Betroffene, aber nicht ausreicht: Es ist uns im Erzbistum München und Freising klar geworden, in der Zusammenarbeit mit Betroffenenbeirat und UAK, immer wieder neu Möglichkeiten der Begegnung, des Gespräches, der Beteiligung aktiv anzubieten und nachhaltig und verlässlich zu ermöglichen. Und das geschieht auch.
 
Deshalb ist mir auch in diesem Zusammenhang der Blick auf meine Verantwortung nach fast 18 Jahren als Erzbischof von München und Freising wichtig.
 
Betroffene haben in diesen Jahren in vielen persönlichen Gesprächen meinen Blick für das Versagen der Institution geschärft, für die ich als Bischof auch im Ganzen einstehe. Dass ich in der Mehrzahl Gespräche mit Betroffenen aus dem Bereich der Erzdiözese München und Freising geführt habe, ist aufgrund meines Wechsels nach München naheliegend.
 
Die verstärkten Bemühungen um Aufarbeitung und um Prävention haben vieles verbessert. Diese Entwicklung verdankt sich insbesondere den Betroffenen, aber auch einer kritischen Öffentlichkeit und vielen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wir werden diesen Weg konsequent gemeinsam weitergehen. Auch das, was mich 2021 dazu bewogen hat, Papst Franziskus meinen Amtsverzicht anzubieten, und was ich damals und seither dazu geäußert habe, gilt nach wie vor.
 
Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, ist mir im Nachdenken und in vielen neu gewonnenen Erfahrungen, insbesondere in Begegnungen mit Betroffenen, immer deutlicher geworden, dass ich in meiner Zeit als Bischof von Trier die Thematik sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs nicht so umfassend und klar wahrgenommen habe, wie das angemessen gewesen wäre. Mir ist bewusst, dass das Handeln der Trierer Bistumsleitung während meiner Amtszeit deshalb nicht immer so eindeutig war, wie ich mir das aus heutiger Sicht wünschen würde. Mit dem Wissen von heute würde ich natürlich manches anders machen, und wir handeln ja auch heute anders. Insbesondere gilt das für die Situation direkt und indirekt Betroffener. Das bedauere ich tief und bitte die Menschen um Verzeihung, denen ich nicht gerecht geworden bin.“