#Deutungskämpfe: Die Sendliger Mordweihnacht Verteidiger der Heimat oder Rebellen?

 
Die Deutungen der „Sendlinger Mordweihnacht“ von 1705 changieren. Im Kern geht es darum, ob die Aufständischen Verteidiger der Heimat oder Rebellen sind. Dr. Roland Götz, stellvertretender Direktor von Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising, stellt Gedenken und Forschungslage vor. Im Fokus seines Beitrags zur Blogparade #Deutungskämpfe stehen kirchliche Quellen, hier vor allem die Sterbebücher der Pfarreien.
 
Votivbild in der Pfarrkirche Egern mit Darstellung der „Sendlinger Mordweihnacht“ von 1707
Votivbild in der Pfarrkirche Egern mit Darstellung der „Sendlinger Mordweihnacht“ von 1707
 
Als im Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1714) der französische König und der Kaiser aus dem Haus Habsburg um das Erbe des kinderlosen spanischen Königs Karl II. kämpften, schlug sich der bayerische Kurfürst Max Emanuel entgegen seiner Pflicht als Reichsfürst auf die Seite Frankreichs unter Ludwig XIV. – und verlor. Nach mehreren militärischen Niederlagen musste er 1704 ins mehrjährige Exil gehen. Kaiserliche Truppen besetzten Bayern und etablierten ein strenges Regime, das letztlich auch zur „Sendlinger Mordweihnacht“ führte.

Die harte Politik der kaiserlichen Administration mit hohen Abgabenforderungen, rücksichtslosen Einquartierungen und Zwangsrekrutierungen verursachte in mehreren Teilen Bayerns  Aufstände gegen die Besatzung. Im „Oberland“ sammelten sich – zur „Landesdefension“ aufgerufen und angeführt von einigen Beamten und Offizieren – rund 2.800 Männer, um die Hauptstadt München zu befreien. Die Aktion hatte aufgrund von Mängeln in Bewaffnung, Ausbildung und Führung kaum eine Erfolgsaussicht.

Der Aufstand endete am Weihnachtstag 1705 in einer Katastrophe: Vor den Mauern der Stadt und beim nahen Dorf Untersendling metzelten kaiserliche Soldaten fast 1.000 Oberländer nieder. Einige Anführer, derer man habhaft werden konnte, ließ die kaiserliche Administration als Rebellen wegen Majestätsverbrechens hinrichten. Für die einfachen Teilnehmer wurde dagegen schon am 28. Dezember 1705 eine Generalamnestie verkündet.

Gedenken und Forschungslage

Das Andenken an die Toten der „Sendlinger Mordweihnacht“ ist in Oberbayern auch nach mehr als 300 Jahren lebendig. Alljährlich wird am Vormittag des Heiligen Abends am so genannten Löwen-Denkmal in Waakirchen unter Beteiligung von Gebirgsschützen, Bevölkerung, Geistlichkeit und politischer Prominenz an sie erinnert. Dieses Denkmal wurde anlässlich des 200. Jahrestages der „Bauernschlacht“ 1905 zum Gedenken an die „treuen Söhne des Oberlandes“ errichtet. Schon ab den 1830er Jahren hatte man im Königreich Bayern damit begonnen, die Toten von Sendling als Helden zu verklären, die ihr Leben für „Fürst und Vaterland“ geopfert hatten.

Die neuere Forschung deutete den Aufstand im Kontext frühneuzeitlicher Bauernrevolten (Peter Blickle, 1988). Sie anerkannte aber auch, dass die Landleute mit ihrem Tun „ein Bekenntnis […] zur Tradition und Eigenständigkeit des Landes“ ablegten und „als Patrioten […] um die Erhaltung der bayerischen Libertät kämpften“ (Richard van Dülmen, 1982). In politischen Gedenkreden der Gegenwart wurden von Sendling 1705 aus gar Entwicklungslinien gezogen, „an deren Ende Volkssouveränität und die Souveränität Bayerns“ stehen (Ministerpräsident Edmund Stoiber, 2001).

Was die zeitgenössische Deutung der Ereignisse betrifft, sind erst in jüngerer Zeit kirchliche Quellen stärker in den Blick der Forschung gerückt. Hervorzuheben sind insbesondere die Sterbebücher, in die die Pfarrer jeweils die Toten aus ihren Gemeinden eintrugen. Sie zählen zu den frühesten Quellen, die das blutige Ereignis selbst und unmittelbare Reaktionen darauf dokumentieren. Zugleich repräsentieren sie eine erste, religiös geprägte Phase des Gedenkens.
Dabei würde eine hauptsächlich kritische Sicht nicht überraschen. Denn der Freisinger Fürstbischof Johann Franz Eckher besaß als eigenständiger, vom großen Nachbarn Bayern oft genug bedrängter Reichsfürst keinen Anlass, mit den politischen Ambitionen des bayerischen Kurfürsten zu sympathisieren. So hatte er auf Bitten der kaiserlichen Administration noch am 23. Dezember 1705 (und damit faktisch zu spät) in einem Rundschreiben angeordnet, alle Pfarrer sollten ihre Pfarrkinder vor einem landesverderblichen und höchst schädlichen Aufruhr warnen; dieser widerspreche dem schuldigen Gehorsam gegen die Obrigkeit, sei „ihnen selbst hechst schedlich“ und werde „unausbleiblich“ die Strafe Gottes nach sich ziehen. Jedoch: Das Bild, das die Quellen bieten, ist differenzierter.

Simon Nagl, Pfarrvikar von Reichersbeuern, übt in seinem Sterbebuch-Eintrag Kritik an den Aufständischen und zieht dafür ein alttestamentliches Zitat (1. Buch der Makkabäer 5,57) heran: "Dieses Jahr haben am 25. Dezember die nachfolgend Genannten, was den Leib betrifft, höchst unglücklich beendet, da sie jedenfalls ohne geistlichen Rat in den Krieg mit den kaiserlichen Soldaten zu Sendling bei München gegangen sind und mit den Söhnen der Makkabäer sagten: 'Lasst uns gehen und uns einen Namen machen, indem wir gegen jene kämpfen etc.' So sind sie, da das Schicksal ihnen feindlich war, schrecklich ermordet worden."

Im Sterbebuch von Helfendorf ist von den „rebellierenden bayerischen Bauern“ die Rede. Sie seien nach München gekommen und dort dem „Morden der Kaiserlichen“ zum Opfer gefallen. Doch fügt Benefiziat Michael Bayr hinzu: "Wir hoffen, dass sie alle fromm im Herrn gestorben sind, denn die meisten haben nicht freiwillig und aus überlegter Bosheit zu den Waffen gegriffen, sondern sie wurden von den Amtleuten gezwungen, die wiederum von anderen verführt worden sind."

Für den Pfarrvikar von Wall bei Miesbach waren es "ehrbare Männer, die, von den – wie sie sagten – Verteidigern des Vaterlandes mit Feuer, Schwert und allen möglichen Grausamkeiten bedroht, wenn sie nicht gegen die Kaiserlichen zögen, bald gezwungen bereitliegende bäuerliche Waffen ergriffen und in einer grausamen Schlacht geschlagen wurden".

Auch wenn sie am Tun ihrer irregeleiteten Pfarrkinder Kritik üben, ist doch bei allen Pfarrern Mitleid mit deren grausamem Schicksal zu spüren.

Abwägende Beurteilung

Eine bemerkenswert abwägende Einschätzung schrieb der Lenggrieser Pfarrvikar Elias Kaiser nieder: "Als Bayern, seines durchlauchtigsten Regenten und Vaterlandsverteidigers Maximilian Emanuel beraubt, der Macht der kaiserlichen Majestät unterworfen und die Einwohner aus Übermut der Soldaten durch verschiedene Abgabenforderungen, Plünderung und Raub bedrückt wurden, sind Bauern – teils aus Erbitterung, teils aus Verzweiflung und zugleich aus Liebe zum Vaterland – hier und da im bayerischen Unterland scharenweise zu den Waffen gestürzt, durch deren Wagemut oder vielmehr Verwegenheit angestachelt auch die Bauern im Oberland bei Tölz, Aibling usw. sich gesammelt haben und zwar mit solcher Begeisterung, dass mehr als 5.000 von ihnen vereint […] in heimlicher Verbindung mit dessen Bürgern München zu belagern suchten. Doch das Schicksal blickte auf sie mit bösem Auge; denn der größte Teil wurde vom Feind hinterlistig umzingelt und teils grausam abgeschlachtet, teils gefangen genommen – ungeachtet dessen, dass er ihnen schon zweimal Verschonung des Lebens (Pardon) versprochen hatte."

War „Vaterlandsverteidiger“ (defensores patriae) – wohl eine Übersetzung von „Landesdefension“ – im Waller Sterbebuch noch sichtlich distanziert als Selbstbezeichnung der Rädelsführer des Aufstands zitiert worden, wird hier den Bauern „Vaterlandsliebe“ als echter Beweggrund zuerkannt.

Noch deutlich weiter geht das Sterbebuch von Egern am Tegernsee. Pfarrvikar P. Alphons Hueber, Benediktiner des Klosters Tegernsee, gibt in seinem Sterbebuch-Eintrag die mit Abstand positivste Wertung des Aufstands ab, die sich überhaupt in einem Sterbebuch des Bistums Freising findet. Sie steht im Gegensatz zur offiziellen Haltung seines Klosters. Dieses sah sich mit gewaltigen Strafforderungen der kaiserlichen Administration wegen angeblicher Konspiration konfrontiert. Deshalb beteuerte es, mit der Sache nichts zu tun gehabt, sich den aufständischen Untertanen gegenüber allenfalls passiv verhalten zu haben. Diese Wertung stammt zudem von einem gebürtigen Oberösterreicher.

Die Vorbemerkung zu den 31 Toten der Pfarrei lautet: "Freundlicher Leser! Ein höchst trauriges und ebenso höchst unglückseliges Schlusswort hat diesem Jahr 1705 jene Niedermetzelung hinzugefügt, die sicher nicht mit Tinte sondern mit Blut zu vermerken ist. Sie wurde zu München bei Sendling am 25. Dezember in der Frühe von 7 bis 9 Uhr von nichtkatholischen kaiserlichen Soldaten vollführt, wo neben unzähligen anderen auch aus unserer Pfarrei Egern etwa 30 für die höchst gerechte Verteidigung unseres Vaterlandes (das, o Schmerz, die Kaiserlichen so gut wie völlig unterdrückt und durch höchst ungerechte Abgabenforderungen erschöpft hatten) vollkommen unschuldig gefallen und mit barbarischer Unbarmherzigkeit auf verschiedene Weise umgebracht worden sind."
Sterbebuch der Pfarrei Egern
Sterbebuch der Pfarrei Egern
Pfarrer Hueber war auch Mitinitiator eines Votivbildes. Mit diesem dankten davongekommene Schlachtteilnehmer der Muttergottes von Egern für ihr Überleben. Es enthält eine der bekanntesten Darstellungen des Ereignisses.

Von dieser Bewertung aus war es nicht mehr weit zu dem, was 1786 (also im Abstand von mehreren Jahrzehnten) der historisch interessierte Pfarrvikar P. Leonhard Buchberger, auch er Benediktiner des Klosters Tegernsee, auf die Deckel-Innenseite und das Vorsatzblatt des Sterbebuchs von Gmund schrieb. Buchberger erstellte nicht nur eine Statistik der Toten aus seiner eigenen Pfarrei, sondern errechnete auch die Summe aller Toten aus dem Tegernseer Tal: "Es sind also im Jahr 1705 am heil. Christtag in der Sendlinger Schlacht, aus der von dem Bauernstand errichteten Landes-Defensions-Armee, […] nach dreymalig von dem Feind gegebnen Pardon für ihren Fürsten und Vaterland ermordet worden: Aus Gmund, Waakirchen und Schaftlach 60. Aus Egern, Tegernsee und Kreut 49. Summa 109."

Bemerkenswert früh erscheint hier die Formulierung „für ihren Fürsten und Vaterland“. Diese nimmt die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Deutung des Todes der Opfer von Sendling vorweg.
Text: Dr. Roland Götz, Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising, Oktober 2021
 

Literatur zur „Sendlinger Mordweihnacht“:

  • Roland Götz, Wunderbare Hilfe und grausamer Tod. Die „Sendlinger Mordweihnacht“ 1705 im Spiegel kirchlicher Quellen, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 49 (2006) 157-202
  • Der bayerische Bauernaufstand 1705/06. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums im Institut für Bayerische Geschichte am 14. Oktober 2005, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 71 (2008) 353-636