Christian Schramm leitet und dirigiert seit mehr als 25 Jahren Kinder- und Jugendchöre in der Erzdiözese München und Freising. Wenige Tage vor Beginn des internationalen Kinder- und Jugendchorfestivals Pueri Cantores in München spricht er über die Besonderheiten der Chormusik und warum die Suche nach Nachwuchs so schwierig ist.
Diözesaner Jugendchortag 2024 in Freising
Herr Schramm, Kindern und Jugendlichen stehen in ihrer Freizeit heute viele Möglichkeiten offen: Sie können chillen, chatten, Computer spielen, Sport treiben und vieles mehr. Warum sollten sie sich ausgerechnet für Chormusik entscheiden – und dann auch noch in der Kirche?
Christian Schramm: Das Angebot für junge Menschen ist tatsächlich groß. Dennoch kommen viele zu uns, bereits im Kindergartenalter. Die meisten Eltern schicken ihre Kinder erst mal „zum Schnuppern“ in den Kinderchor. Die Stimme ist elementare Ausdrucksform des Menschen, die jedem Kind quasi in die Wiege gelegt ist, die alle immer bei sich haben. Es gilt, diese Begabung zu entdecken, die Freude am Klang der eigenen Stimme, am Singen in Gemeinschaft zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu wecken, zu fördern und zu pflegen. Mit den kleinsten Sängerinnen und Sängern ist es dann schon möglich, einfache Lieder und Gesänge im geschützten Rahmen von Kindergottesdiensten oder auch zusammen mit den Größeren in Familiengottesdiensten zu präsentieren.
Wann ist der ideale Zeitpunkt, bei Ihnen mit dem Singen anzufangen?
Christian Schramm: Das Jahr vor der Grundschule ist nach meiner Erfahrung das beste Alter dafür. Fünfjährige Kinder merken sich die Lieder schnell – viel leichter als später, wenn sie lesen können. Das ist eine gute Basis. Ich habe Sänger, die bereits im Kindergarten bei mir angefangen haben und heute mit Anfang 20 im Jugendchor singen. Altersgerechte Gruppen ermöglichen individuelle Förderung und Weiterentwicklung der musikalischen Fähigkeiten. Auch wenn die Chöre ein kostenloses Angebot darstellen, sind regelmäßiger Probenbesuch und auch das gemeinsame Überstehen von zeitweiliger Unlust die Voraussetzung für eine erfolgreiche Kinderchorarbeit.
Was ist das Besondere am Chorsingen? Gibt es ein Geheimnis?
Christian Schramm: Im Chor können alle spüren, wie wichtig der Zusammenhalt ist, ein gemeinsames Ziel vor Augen, das Singen in der Gemeinschaft, die Arbeit an Ausdruck und Gestaltung eines Musikstückes, die Freude an einer gemeinsamen Leistung, zu der alle beitragen. Chorsingen ist kein Wettkampfsport, aber ein gemeinsames Ziel, das alle verfolgen und das einen über sich hinauswachsen lässt, und bei dem das gemeinsam erreichte Ergebnis noch mal deutlich besser ist als die Leistung jedes einzelnen.
Worum geht es für Sie beim Chorsingen sonst noch?
Christian Schramm: Vor allem darum, seine eigene Stimme kennenzulernen und als Ausdrucksmittel zu erleben und einsetzen zu können. Im Chor zählen Rücksichtnahme, aufeinander Hören, Teamgeist, mit der eigenen Stimme Teil eines gemeinsamen Ganzen zu sein – alles Eigenschaften, die im Leben generell gefragt sind. Dabei tut es besonders gut zu spüren, dass wir im Chor eine besondere Gemeinschaft sind, die schöne Dinge miteinander erlebt, beispielsweise ein großes Chorfestival. Da fahren wir nachts singend in der U-Bahn von Barcelona oder stehen dann am Ende alle abends in Florenz auf einem schönen Platz, unter uns die Stadt mit der Domkuppel, und wir fangen spontan zu singen an. Das sind Momente, die neue Motivation verleihen. Weil die Kinder das Singen nicht als uncool erleben, auch nicht das Singen in der Kirche.
Ist das für Kinder ein Problem – das Singen in der Kirche?
Christian Schramm: Grundsätzlich ist es kein Problem, schwieriger als früher ist es natürlich, die Kinder für den Chor zu gewinnen, da es immer weniger Kinder- und Familiengottesdienste gibt, wo Kinder ganz natürlich auf den Chor treffen. Wenn es darum geht, neue Leute zu gewinnen, und ich die Kinder bitte, doch Freunde mitzubringen, höre ich schon immer wieder: Die wollen nicht in der Kirche singen. Für viele ist das ein Ausschlusskriterium. Aber bei meinen langjährigen Sängerinnen und Sängern ist das überhaupt kein Thema. Die wollen einfach gute Chormusik machen, haben ein ausgezeichnetes Gefühl fürs gemeinsame Singen entwickelt und haben eine gesunde Lust und Neugier auf immer neue Musik. Auch klassisches Repertoire, anspruchsvolle Chormusik, bei der ich früher nie gedacht hätte, dass man sie in einem Jugendchor singen kann.
Und der religiöse Bezug der Lieder?
Christian Schramm: Wenn ich mit jüngeren Kindern über religiöse Themen spreche, ist es oft nicht leicht, das Interesse zu wecken. Ich merke dann schnell, wie viel leichter es ist, über die Lieder, die Musik in Verbindung mit guten Texten in die religiöse Thematik einzusteigen.
War das früher anders?
Christian Schramm: Ich sage nicht „früher war alles besser“, aber es ist schon spürbar, dass religiöse Themen und Kirchenbindung weit weniger vorhanden sind als noch zu Beginn meines Berufslebens. Wir Chorleiter können lediglich unseren Beitrag dazu leisten, dass die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen gute Erfahrungen und Erlebnisse mit Kirche verbinden.
Jetzt steht das große Pueri-Cantores-Festival an, der Höhepunkt des Jahres, und das in München.
Christian Schramm: In München haben wir den Marienplatz als schon sehr exklusiven und reizvollen Dauerfestivalplatz mit großer Bühne – viele schöne Kirchen und kurze Wege. Beim Abschlussgottesdienst wollen wir alle eine große Gemeinde sein – und ein Zeichen setzen, das in die Stadt ausstrahlen und einladen soll. Für uns Chöre wird es spannend sein zu sehen, wie beispielsweise ein spanischer, schwedischer, brasilianischer Chor klingt und wie viele unterschiedliche Kinder und Jugendliche aus der ganzen Welt Chormusik machen. Für uns ist das eine wichtige Standortbestimmung, und wir freuen uns auf viele Begegnungen.
Was versprechen Sie sich von dem Festival, auch für Ihre Arbeit?
Christian Schramm: Das Festival kann allen zeigen, was wir in unseren Chören für eine wertvolle kirchliche Bildungs- und Jugendarbeit leisten. Und dass es nachhaltige Jugendarbeit ist, wenn man sieht, wie viele sich über lange Zeiträume bei uns engagieren. Das kann man gar nicht oft genug betonen. Das Angebot ist kostenlos, die Kirche finanziert es mit Hilfe der Kirchensteuer. Es ist grundsätzlich für alle offen, auch für Nichtchristen oder Kinder, die nicht getauft sind. Es ist offen, es ist kostenlos, aber es ist nicht umsonst.
Zum Abschluss noch eine Frage zu unserem Schwerpunkt: Was sind für Sie die wesentlichen Elemente von Kirchenmusik?
Christian Schramm: Herausragende Musik und qualitätvolle Texte sind Kennzeichen von Kirchenmusik. Meine Sängerinnen und Sänger haben mittlerweile ein ausgeprägtes Qualitätsbewusstsein – egal ob wir lateinisch, englisch oder deutsch, mit Orgel, Klavier, Instrumenten oder ohne Begleitung musizieren. Ich wähle bewusst ein Repertoire aus, das uns stimmlich weiterbringt. Nicht alles, was unsere Jugendlichen gerne privat hören, eignet sich für eine überzeugende Wiedergabe im Chor.
Aber wenn ich so manche Playlists gezeigt bekomme, bin ich fasziniert, welche zeitlosen Klassiker dort neben aktuellen Popsongs Eingang gefunden haben. Das ist, was wir mit unserer Chorarbeit erreichen und mitgeben können: Musikalische Bildung, eingebunden in einer schönen Gemeinschaft, Kennenlernen einer großen stilistischen Vielfalt und das gemeinsame Musizieren zur Ehre Gottes und zur Freude fürs Publikum und Sängerinnen und Sänger gleichermaßen.