Reise durch die Bibel - Etappe 9
Psalmen als Schule des Gebets

Dr. Christine Abart

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Wenn biblische Menschen beten, bringen sie ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihr Glück sehr deutlich und emotional zum Ausdruck. Alle Gefühle und Wünsche haben in den Psalmen Platz. Oft wächst den Betenden Vertrauen und Kraft zum Widerstand im Unrecht zu. Wer Psalmen rezitiert oder für die eigene Gebetssprache zum Vorbild nimmt, mag ähnliches erleben.

1. Einstieg
 
Kirchenfenster König David
Bis heute lassen sich Dichterinnen und Dichter gerne von den biblischen Psalmen inspirieren. Diese Gebete überzeugen durch ihre Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber sämtlichen Gefühlslagen wie durch ihre Zeitlosigkeit und damit Aktualität.

Die Bibel bietet noch weit mehr als die 150 im Psalter zusammengestellten Gebete und Lieder. Das Loblied der Hanna in 1 Sam 2,1-10, Jonas Gebet in Jona 2,3-10 und das Magnificat in Lk 1,46-55 sind nur ein paar Beispiele dafür.

Für die verschiedenen Redaktionen des Ersten Testaments war die Anzahl von 150 Psalmen stets von Bedeutung.(1) Diese 150 Gebete wurden in fünf Bücher gegliedert, analog zu den fünf Büchern Mose, der Tora. Jüdische Gelehrte sagten, Mose hat uns die Tora gegeben, David die Psalmen.
Freilich ist David nicht Autor der 150 Psalmen. Mit seinen dichterischen, musikalischen und sogar musiktherapeutischen Fähigkeiten, die er an Sauls Königshof einsetzte (vgl. 1 Sam 16,14-23), ist er aber ein willkommenes Vorbild als Psalmenbeter. Psalmen, die als Dichtungen König Davids ausgegeben wurden, waren bestimmt beliebt.

Die griechische Übersetzung des Ersten Testaments (Septuaginta) hat zum Teil die Zählweise der Psalmen verändert. Ihre Zählung hinkt streckenweise einen Psalm hinterher. Lateinische Übersetzungen weisen dieselben Änderungen auf. Das ist gut zu wissen, wenn man zum Beispiel die Texte Gregorianischer Gesänge sucht.

Die 150 Psalmen haben oft mehrere Überschriften. Heutige Herausgeber deuten mit ihren Überschriften auf den Inhalt des kommenden Gebets hin. Ihre Texte stehen vor der Zahl des jeweiligen Psalms und sind oft auch farblich gekennzeichnet. Diese Überschriften gehören nicht zum Bibeltext. Viele Psalmen haben zudem einen einleitenden Text durch Redaktoren biblischer Zeit. Diese Überschriften gehören sehr wohl zum Psalter. Häufig heißt es einleitend „Ein Psalm Davids“. Auch Salomo (vgl. Pss 72; 127) und Mose (vgl. Ps 90) werden genannt, außerdem die Sängergruppen um Asaf und Korach. Manche Angaben beziehen sich vermutlich auf nicht mehr rekonstruierbare Melodien oder Instrumentalbegleitungen. Auch Gattungsbezeichnungen wie „Lied“ oder „Gebet“ kommen vor oder Angaben zur bevorzugten Verwendung wie „Wallfahrtslied“ (vgl. Pss 120-134) oder „Für den Shabbat“ (Ps 92). Interessant sind Situationsangaben aus dem Leben Davids bei einigen Psalmen (z.B. Pss 3; 18; 34; 51; 57). Diese Einleitungen lassen Rückschlüsse auf das Verständnis der Gebete in biblischer Zeit schließen.

Ein wichtiges Stilmittel der Psalmen ist der Parallelismus. Die meisten Verse bestehen aus zwei parallel gestalteten Aussagen, manche aus drei. Der zweite Satz (manchmal auch ein dritter) wiederholt die Aussage des ersten mit anderen Worten, ergänzt oder steigert sie oder bildet gelegentlich eine Antithese. Diese Art des Dichtens und Betens gibt Zeit, das Gesagte zu meditieren und zu verinnerlichen. Im Wechselgesang ist zwischen diesen Halbversen etwas Stille vorgesehen. Auch diese gibt Gelegenheit zum Verweilen.

Zum Beispiel heißt es in Ps 34,16:
Die Augen des HERRN sind den Gerechten zugewandt,
seine Ohren ihrem Hilfeschrei.
Die Satzglieder können wie in Ps 85,11 überkreuzt stehen:
Es begegnen einander Huld und Treue;
Gerechtigkeit und Friede küssen sich.

Als Grundformen der Psalmen lassen sich Klage- und Bittgebete sowie Danklieder und Hymnen nennen. Diese kommen als Gebete Einzelner und als kollektive Anrufungen Gottes vor. Alles darf vor Gott artikuliert werden: Klagen über existentielle Not, dringende Bitten an Gott, einzugreifen, Anklagen, Sündenbekenntnisse und Unschuldserklärungen, aber auch Erinnerungen an Gottes Hilfe und Dank dafür. Alle Gedanken und Gefühle werden ins Gebet gebracht. In vielen Psalmen ist zu sehen, dass diese ehrlichen Aussprachen mit Gott die Betenden verändert. Die Erinnerung an Gottes Hilfe in vergleichbaren Situationen gibt ihnen Mut und Kraft, gegen Unrecht aufzustehen. Viele Betende finden trotz großen Leids wieder Lebensfreude.


3. Der Rahmen: Die Psalmen 1 und 150
 
Texte
Psalm 1: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Psalm 150: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Das erste Wort des Psalters lautet „selig“. „Glücklich“, könnte man heute vielleicht besser übersetzen. Andererseits kennen viele die „Seligpreisungen“ in Mt 5,3-11. Das dort verwendete Wort ist die griechische Übersetzung des hebräischen „selig/glücklich“.

Ein Buchanfang ist immer etwas Besonderes. Ist dieser gelungen, zeigt er, was kommt, und macht neugierig darauf. Zu Beginn des Psalters wird der Mensch seliggepriesen. Unter dieser Prämisse sind alle weiteren Psalmen, ja eigentlich die ganz Bibel, zu verstehen.

„Selig der Mann“ ist richtig übersetzt. In den folgenden Versen geht es um die religiöse Praxis. Viele regelmäßige Gebete und kultische Gebote waren und sind noch heute im Judentum nur für den Mann verpflichtend. Die Frau sorgt zuhause für eine dem Willen Gottes entsprechende gute Atmosphäre. Verboten waren die Gebete und religiösen Pflichten Frauen aber nie. Im heutigen Judentum gibt es freilich auch viele Frauen, die ihre Religion den Männern vergleichbar ausüben. In vielen Synagogen werden Frauen gleichberechtigt zur Tora aufgerufen, wirken als Vorbeterinnen, lesen aus der Tora vor und legen sie aus. Im liberalen, aber auch modern orthodoxen Judentum sind Frauen als Rabbinerinnen tätig. „Selig der Mensch“, bedeutet daher heute der Beginn des Psalters.

Dieser Eröffnung folgt eine Abgrenzung. Glücklich ist, wer sich nicht mit Übeltätern, Sündern und Überheblichen abgibt. Übeltäter sind in der Bibel Menschen, die andere physisch oder psychisch vernichten, also wirklich Übles tun. Auch Sünder schaden Anderen. Überhebliche nützen oft ihre Machtstellung aus. Der glücklich Gepriesene geht nicht mit solchen, er steht nicht bei ihnen und sitzt nicht mit ihnen zusammen. Die drei verschiedenen Verben wollen möglichst viele Situationen umfassen und ausschließen.

Danach kommen positive Aussagen darüber, was der glückliche Mensch tut. Er lebt nach Gottes Tora. Tag und Nacht ist er mit ihr beschäftigt. Die Tora gibt ihm Leben und er wird selbst zum Lebensspender. Die Tora ist kein Gesetzbuch, sondern ein Lebensbuch. Sie enthält Regeln, die dem Leben dienen und vieles andere mehr.

Psalmen lassen sich wie viele Gedichte in Strophen gliedern. Das hilft zum Verständnis. In Ps 1 beginnt in v 4 die zweite Strophe. Wiederum werden zwei Wege voneinander abgegrenzt. Das ist typisch für weisheitliche Literatur der Bibel. Die Texte werben für einen Lebensweg, der dem Individuum wie der Gemeinschaft dient. Reaktionen Gottes oder der Götterwelt werden im Alten Orient selbstverständlich erwartet.
Im Quellgebiet des Jordan in Dan/Israel
Im Quellgebiet des Jordan in Dan.
Am Ende des Psalters, in Ps 150,6 heißt es: „Alles, was atmet, lobe den HERRN. Halleluja!“ Ein Loblied aller Lebewesen, aller Menschen und Tiere, ist das Ziel der Lieder. Mit sämtlichen Musikinstrumenten der Zeit werden Gottes Großtaten in den vv 1-5 besungen. Ps 1 ist zu seinem Ziel gekommen. Alles, was Atem hat, lobt Gott, und wer Gott lobt, lebt seine Tora. Dieser Gedanke entwickelt sich im Psalmenbuch immerfort. Dank- und Lobpsalmen werden gegen Ende mehr und gipfeln in Ps 150,6. Halleluja heißt übersetzt ebenfalls: „Lobt den HERRN!“

Zum Weiterlesen
  • Um mit der Gebetssprache der Psalmen vertraut zu werden, empfehle ich Ihnen, den Psalter an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen und ein paar Verse zu lesen. Lassen Sie beiseite, was schwer verständlich ist, und konzentrieren Sie sich auf die Sätze, die Ihnen gut tun. Nehmen Sie diese mit in Ihren Alltag.
  • Wenn Sie mehr über biblisches und jüdisches Toraverständnis lernen wollen, empfehle ich, abschnittsweise Ps 119 zu lesen. Dieser längste Psalm besteht aus 22-mal 8 Versen. Das hebräische Alphabet hat 22 Buchstaben/Konsonanten. Je 8 Verse beginnen mit demselben Buchstaben, in der folgenden Strophe mit dem nächsten. Verkosten Sie auch hier die Aussagen, die Sie in Ihrem Schriftverständnis weiterführen.

4. Von der Klage zum Tanz, von der Trauer zur Freude

Text
Psalm 30: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Psalm 30 ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Psalmengebet wieder Lebenskraft gibt. Das Lied beginnt mit Dank, weil der HERR geholfen hat. Zugleich zeigen die vv 2-4 die Lebensgefahr, in der sich der betende Mensch befand. Gott hat ihn aus der Gefahr „heraufgezogen“ (v 2). Das ist ein sehr anschauliches Bild. Leere Zisternen wurden benützt, um unliebsame Menschen wegzusperren. Josef, den Sohn Jakobs, und den Propheten Jeremia ereilten zum Beispiel dieses Schicksal (vgl. Gen 37,24; Jer 38,6). In v 4 ist nochmals von der Grube die Rede, aber auch von der Totenwelt. In diesem Zusammenhang lässt der HERR den Menschen selbst aus der Zisterne heraufsteigen. Im Hebräischen gibt es eine kausative Verbform, die am besten mit etwas tun lassen wiedergegeben werden kann. Oft ist es Gott, der Menschen etwas zukommen lässt. In diesem Fall bedeutet dies: Gott zieht den Menschen nicht wie eine Marionette aus dem Dreck, sondern er befähigt ihn, selbst herauszugehen. Freier könnte man sagen, Gott gibt dem Menschen die nötige Kraft, um sich gegen die feindlichen Angriffe zu wehren. Gesang und Musik für den HERRN folgen diesen Erfahrungen.

In v 6 heißt es, der Zorn Gottes dauert nur einen Augenblick. Gott wird in der Bibel sehr menschlich beschrieben. Das war in der Antike übliche Praxis. Vom Zorn Gottes ist die Rede, wenn sich die Menschen nicht an die für das Zusammenleben so nötigen Weisungen halten. Biblische Texte schreiben sehr deutlich gegen Unrecht an.

In den vv 9-10 überwiegt erneut die Todesangst. Eine durchaus übliche Frage an Gott lautet: „Was nützt dir mein Blut, wenn ich zum Grab hinuntersteige? Kann Staub dich preisen, deine Treue verkünden?“ (v 10). Wenn es schon sonst keinen Grund gibt, den betenden Menschen überleben zu lassen, dann soll Gott doch bedenken, dass er einen Treuen verlieren würde. Dieser Frage folgen in v 12 zwei Hilferufe (Parallelismus).

Am Ende zeigt sich in den vv 12-13 eine deutliche Wende. Gott hat die Klage in Tanzen verwandelt – schöner ist die Freude über Gottes Hilfe wohl kaum auszudrücken. Tanz wird in biblischen Texten häufig erwähnt. Das zeigen alleine schon die elf verschiedenen hebräischen Wörter für verschiedenartiges Tanzen. Verstärkt wird dieses Bild in Ps 30,12 durch die Erwähnung unterschiedlicher Gewänder. Das Trauerkleid ist im hebräischen Text der „Sack“, das Trauer- und Bußgewand bis heute im Judentum. Vom neuen Gewand wird der Gürtel erwähnt. Der Mensch ist wieder gut angezogen, die Trauerzeit ist vorüber. Bildlich ist der Betende mit Freude umgeben wie durch sein Gewand. Das Gebet hat dem Menschen neue Kraft geschenkt.

Zum Weiterlesen
  • Die hebräische Ausdrucksweise ist oft ganzheitlich. Es ist daher sehr erhellend, einzelne Psalmen mit einem besonderen Augenmerk auf Körperbegriffe und Körperhaltungen zu lesen. Es ist erstaunlich, wie oft Menschen mit dem Herzen denken, die Hände erheben, gehen, stehen, sitzen, sehen und hören und vieles mehr. Auch Gott agiert sehr häufig körperlich und den Menschen vergleichbar. Wie sollten Menschen anders von ihm sprechen?

5. Hilfe für die Hungernden

Text
Psalm 33: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Psalm 33 beginnt mit einem Aufruf zum Jubel für den HERRN. Gerechte und Aufrichtige werden diesem Ruf folgen und Gott preisen. Leierspiel und Gesang sind Ausdruck dafür. Im Weiteren werden Gründe für den geforderten Jubel erkennbar: Gottes verlässliches Wort, seine Treue, die Vorliebe für Gerechtigkeit und seine Liebe, die die ganze Erde erfüllt (vv 4-5). An der Schöpfung wird Gottes umfassende Kraft erkennbar (vv 6-9), außerdem am Vereiteln der Pläne der Völker (v 10). Letztlich setzt Gott seine Herzensanliegen durch (v 11).

In den vv 13-19 schaut Gott vom Himmel herab und sieht alle Menschen. Gott sieht hin und tritt gegen Unrecht an. Er erkennt Könige, die auf kriegerische Macht setzen. Sie kommen hoch zu Ross und bauen auf ihre eigene Macht. Letztlich aber wird ihnen diese vermeintliche Stärke nicht helfen. Alle Despoten und Großmächte finden ein Ende.

Wie gut, dass Gottes Auge auf denen ruht, die ihm vertrauen. Es sind die bereits zu Beginn genannten Gerechten und Aufrichtigen. Gott schaut auf sie und entreißt sie der Hungersnot und dem drohenden Tod. Bereits in v 12 wurde deshalb sein Volk selig/glücklich gepriesen. Es gehört zu Gott und darf daher seinen Beistand erwarten (v 12). Der Abschluss des Gebets (vv 20-22) zeigt die Zeit des verzweifelten Wartens auf göttliche Hilfe und zugleich die große Freude über erfahrene Rettung. Das Fazit der Betenden lautet: Auf Gott zu vertrauen, lohnt sich. Er ist ihr Schutz.

6. Der Ruf nach Vergeltung
 
Text
Psalm 58: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Viele Psalmen zeigen die oft harten Lebensbedingungen im Alten Orient. Tiere und Menschen können zu lebensbedrohlichen Feinden werden. Viele Betende sehen keinen Ausweg und flehen daher zu Gott, er möge die Feinde vernichten.

In Psalm 58 verhindern die Richter des Volkes gerechte Urteile. Sie begehen selbst Unrecht und sind gewalttätig. Das soziale Gleichgewicht ist massiv bedroht, und das schon über einen längeren Zeitraum. Die Angesprochenen gelten vom Mutterschoß an, also Zeit ihres Lebens, als treulos und als Lügner.

Als Frevler werden diejenigen bezeichnet, die Unrecht tun. In Ps 58,3 lassen sie der Gewalt ihrer Hände freien Lauf. Ihre Treulosigkeit in v 4 bezieht sich auf Gott. Ihre Lügen können für Menschen zu größter Gefahr werden. Zwei Zeugen waren zur Urteilsfindung nötig. Blieben Lügenzeugen unerkannt, wurden Unschuldige verurteilt, möglicherweise sogar gesteinigt. Die Betenden vergleichen die Übeltäter daher mit Giftschlangen, die sich nicht zum Guten beschwören lassen.

Unvermittelt schreien die Verfolgten in v 7 zu Gott. Er soll die Giftzähne der mit Schlangen vergleichbaren Bedränger zerbrechen und ihr Löwengebiss zerschlagen. Dieser Hilfeschrei bringt die Wende im Gebet. In den vv 8-10 reden die Betenden in vielen Bildern vom erhofften Ende dieser Übeltäter. Sie sollen vergehen wie Wasser, das auf heißem Boden verschüttet wird, oder wie Pfeile, die nach ihrem Abschuss in der Luft knicken. Wie eine in der Hitze in ihrem Schleim vergehende Schnecke, ja wie eine Fehlgeburt sollen sie sein. Töpfe sind zum Kochen da. Wenn aber das Feuer im Wind erlischt, können sie nicht ihrer Bestimmung gemäß gebraucht werden. Vergleichbar versagen die angesprochenen Richter, die selbst Unrecht tun.

Im Unterschied zu ihnen ist in den vv 11-12 von Gerechten die Rede. Gerecht ist, wer an Gottes Weisungen festhält. Angesichts der anfangs genannten Brutalität freut sich ein solcher, wenn er die Vergeltung an den Gewalttätigen sieht. Der erhoffte Ausgleich tritt ein. Das Bild, dass der Gerechte seine Füße im Blut des Übeltäters badet, ist sehr alt. Im Psalm zeigt es die große Erleichterung, dass selbst größtes Unrecht ein Ende hat. Dieses Gefühl darf deutlich zur Sprache kommen. Das Resümee der Betenden aber lautet: Wie gut, dass letztlich Gott der Richter auf Erden ist.

Zum Weiterlesen
  • In den Psalmen kommen die unterschiedlichsten Emotionen zum Ausdruck. Klage, Trauer, Schmerz, aber auch Freude, Jubel und Tanz verdeutlichen Bitten und Dank. Es lohnt sich, die Emotionen einzelner Psalmen zu betrachten, mögliche rasche Wechsel wahrzunehmen und das eigene Gebetsleben davon inspirieren zu lassen. Alle Emotionen sind vor Gott erlaubt. Umgekehrt wird auch Gott im Eifer für sein Volk, manchmal zornig und ganz oft liebend und erbarmend beschrieben.

7. Behütet unter Gottes Flügeln
 
Text
Psalm 63: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Die redaktionelle Überschrift in Ps 63,1 spricht von Davids Aufenthalt in der Wüste. Dafür kommen zwei Erzähleinheiten der Davidgeschichte als Bezugspunkte in Frage. Einerseits lässt sich David bei seiner Flucht vor Saul im höhlenreichen Bergland bei En Gedi nieder (1 Sam 24). Andererseits überschreitet er während des Aufstands seines Sohnes Abschalom den Bach Kidron, verlässt Jerusalem und geht über den Ölberg in die Wüste (2 Sam 15). Die Wüste Juda östlich des Ölbergs galt schon immer als Ort der Zuflucht für Verfolgte. Der Text lässt offen, an welche der beiden Texte die Redaktoren denken. David zieht sich, von Feinden bedrängt, in die Wüste zurück und sehnt sich nach Gemeinschaft mit Gott und Menschen. Das vermuten die Redakteure, die diesen Kontext dem Gebet voranstellen. Ähnliches empfinden viele Betende in ganz unterschiedlichen Bedrängnissen.

Das Gebet setzt in v 2 mit einer intensiven Suche nach Gott ein. Der betende Mensch fühlt sich ausgetrocknet wie sein Land. Es ist wahrscheinlich, dass hier jemand aus existentieller Not zu Gott schreit. Die regenfreien Monate in biblischen Ländern waren und sind sehr herausfordernd. Da dürsten die Kehlen von Mensch und Tier. Die Kehle ist der Sitz der Lebenskraft. Mit ihr atmet der Mensch, nimmt Wasser und Nahrung durch sie auf und schreit oder jubelt aus ihr. Die deutsche Übersetzung „Seele“ für dieses Wort ist irreführend. Im Alten Orient wurde ganzheitlich gedacht. Wenn die Feinde die Hand an die Kehle legen (vgl. Ps 97,10) und zudrücken, ist das Leben ausgelöscht. Hier würde die Übersetzung „Seele“ gar nicht passen, die aktuelle Einheitsübersetzung schreibt an dieser Stelle „Leben“.

Freilich ist es auch möglich, den Durst nach Gott in Ps 63 als spirituelles Bedürfnis zu verstehen. Das Gebet ist für beide Deutungen offen. Im Sinne des biblischen Strebens nach Gerechtigkeit gilt aber immer die Bitte, Menschen in materieller Not ins Gebet einzubeziehen und ihnen auch tatsächlich zu helfen.

In Ps 63,3-5 befindet sich der betende Mensch im Heiligtum oder erinnert sich an seine Erfahrungen im Tempel von Jerusalem. Dort sind Gottes Macht und Liebe für ihn besonders spürbar. Unter anderem sagt er, „deine Huld ist besser als das Leben.“ Möglicherweise sieht dieser Mensch sein Leben nur noch als Dahinvegetieren. Wenn er jeden Tag von neuem nach Wasser suchen muss, ist das verständlich. Sollte er auf der Flucht sein (vgl. v 10), kann er sein Leben ebenso als bloßes Vegetieren verstehen.

Das Heiligtum ist aber auch der Ort der großen Feste. Hier werden Opfertiere geschlachtet, an denen sich die Feiernden satt essen können. An solche Erfahrungen erinnert v 6. Im Weiteren bezeichnet der Mensch Gott als seine Hilfe. Er jubelt im Schatten von Gottes Flügeln. Der Text erinnert an die Adlerflügel, auf denen Gott sein Volk aus Ägypten fortträgt (vgl. Ex 19,4; Dtn 32,11). Vom Schutz der Menschen unter Gottes Flügeln ist ausdrücklich in Rut 2,12 die Rede. Konkret findet Rut unter den Flügeln von Boas Gewand Schutz (Rut 3,9). Aufgrund eines solchen „Schutzschirms“ verlieren die Feinde in Ps 63,10-11 ihre Macht. In v 12 wird der König als prominentester Vertreter der Betenden erwähnt.

Zum Weiterdenken
  • Wenn in biblischen Texten von der „Seele“ die Rede ist, ersetzen Sie diese bitte versuchsweise durch „Kehle“ oder „Lebenskraft“. Dadurch wird die existentielle Dimension der Aussagen deutlich spürbar.

8. Jerusalem als Heimat aller Völker
 
Text
Psalm 87: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Im Namen Jerusalem steckt das Wort Salem, Schalom, übersetzt Frieden und Wohlergehen. Psalm 87 zeigt Jerusalem in seiner grundlegenden Bestimmung als Stadt universalen Friedens. Zion ist ein weiterer Name für die Gottesstadt. Die in v 2 erwähnten Tore erinnern an die Funktion altorientalischer Stadttore als Versammlungsplätze und Orte der Rechtsprechung. In Ps 87 erinnern Jerusalems Tore an die von Gott geschenkte Gerechtigkeit.
In den vv 4-6 spricht der HERR selbst. Er gewährt den Menschen aller Völker Bürgerrecht in Jerusalem. Die Ländernamen markieren die vier Himmelsrichtungen. Rahab steht symbolisch für Ägypten im Westen, Babel liegt im Osten. Das Philisterland und Tyrus repräsentieren den Norden, Kusch das Südland. Alle dürfen Zion als ihre Geburtsstadt bezeichnen und sich an ihren mütterlichen Qualitäten freuen. Diese kommen zum Beispiel in Jes 66,10-13 deutlich zum Ausdruck. Auch eine Quelle, die im Tempelbezirk entspringt (vgl. Ez 47,1-12), verbildlicht die nährende Kraft der Gottesstadt. Alle Menschen dürfen sich an den Lebensmöglichkeiten in der gemeinsamen Stadt des Friedens erfreuen. Gesang und Tanz sind in Ps 87,7 Ausdruck ihrer Freude.
Blick auf Jerusalem vom Skopusberg
Blick auf Jerusalem vom Skopusberg

Zum Weiterdenken
  • Ich empfehle Ihnen, Psalmen wie diesen zum Beispiel dann zu betrachten, wenn Sie die Bitten um Vernichtung von Feinden in anderen Gebeten schwer ertragen. Die Psalmen bieten Gebetsvorschläge für unterschiedlichste Lebenssituationen. Einzelne Verse sind immer situativ zu verstehen. Alle Gebete zusammen können aber sehr wohl Einblicke in Israels Gottesvorstellungen geben.

9. Lob dem Schöpfer

Text
Psalm 104: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Viele Betende loben Gott als Schöpfer. Einige Psalmen enthalten längere Lieder auf den Schöpfer oder sind ganz davon bestimmt. Das trifft für Psalm 104 zu. Nach einem eröffnenden Lobpreis in v 1 erinnert dieses Schöpfungslied an Teile des in Gen 1 erzählten Sieben-Tage-Werks. In beiden Texten ist das Licht Voraussetzung für das entstehende Leben. In Gen 1 entsteht am zweiten Schöpfungstag das Gewölbe als Himmel über der Erde. Psalm 104,2 spricht vergleichbar vom Himmelszelt. Auch die auf Pfeiler im Urmeer gründende Erde kommt in beiden Texten vor.

Wind, Sinnbild für Gottes Geist, ist in Gen 1,2 die erste göttliche Kraft, die über dem Wasser schwebt. In Ps 104,3-4 macht Gott die Winde zu seinen Boten. Nach altorientalischem Brauch fährt Gott selbst mit Wind und Wolken wie auf einem Wagen. Ziel seines Wirkens ist es, das gefährliche Urmeer zu besiegen. In v 9 setzt Gott diesem Grenzen. Gen 1 erzählt die Schöpfungsgeschichte im Gesamten als Schaffen einer Ordnung, die Leben ermöglicht. An Gottes Ordnung schaffende Macht appellieren Betende der Psalmen, wenn sie sich in Not und Leid mit zerstörerischen Mächten konfrontiert sehen.

In Ps 104,10-18 finden Tiere und Menschen Nahrung im geschaffenen Lebensraum. In Gen 1 bevölkern am fünften und sechsten Tag diese Lebewesen die Erde. In beiden Texten leben sie in Eintracht zusammen. Das Vieh lebt vom Gras, der Mensch findet Getreide und bäckt Brot. In Ps 104,15 sorgt Gott außerdem für Luxus. Es gibt Wein, der das Herz des Menschen erfreut, und Öl, mit dem er seine Haut pflegt.

Wie am vierten Tag in Gen 1 garantieren auch in Ps 104,19-23 Sonne und Mond den Rhythmus von Tag und Nacht. Danach geht der Blick zum Meer und seiner Tierwelt. In Gen 1 sind die Meerestiere die ersten, die am fünften Tag entstehen. In Ps 104,26 werden außerdem Schiffe erwähnt, mit denen Menschen das Meer bezwingen können. Der Leviatan, der von Gott bezwungene Drache des Urmeers, wird auch erwähnt. Er verliert seinen Schrecken und dient Gott als Spielgefährte.

Nochmals erwähnen die vv 27-28, dass alle Lebewesen von Gott gesättigt und bestens versorgt werden. Unvermittelt ist danach vom Tod die Rede. So wie Gott den Atem gegeben hat, nimmt er ihn auch wieder und der Mensch kehrt zurück zur Erde. Der Betende hat dabei den Eindruck, dass Gott sich verbirgt. Diese Gottverlassenheit wirkt verstörend. Doch schon im nächsten Moment schickt Gott wiederum seinen Geist, neues Leben entsteht.

Gegen Ende erfreuen sich Gott und Mensch am Geschaffenen. Doch das Glück hat Grenzen. In v 35 werden Sünder und Frevler/Übeltäter genannt. Das sind Menschen, die gegen die göttliche Ordnung verstoßen, gewalttätig werden, einander bedrohen und andere Lebewesen oder den Boden ausbeuten. Unter ihnen ist die Erde als Lebenshaus für alle Geschöpfe in Gefahr. Wer so handelt, soll wie die ursprünglichen chaotischen Mächte von der Erde verschwinden. Im Vertrauen, dass Gott seine Schöpfung erhält, endet das Gebet wie es begonnen hat: „Preise den HERRN, meine Seele! Halleluja!“
Klippschliefer/Klippdachs in Tabgha am See Gennesaret
Klippschliefer/Klippdachs (vgl. Ps 104,18) in Tabgha am See Gennesaret

Zum Weiterdenken
  • Die große Wirkung göttlichen Lichts lässt sich beim Hören des ersten Choreinsatzes in „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn sehr gut nachempfinden.
  • Schauen Sie in einer möglichst lichtarmen Gegend in den Sternenhimmel und spüren sie der Idee vom Himmelszelt nach. Die Sterne setzen der Unendlichkeit scheinbar Grenzen. Der Mensch darf sich unter dem nächtlichen Himmel behütet fühlen wie unter dem Dach seines Zeltes. Diese Vorstellung kann gut neben naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Ahnungen von der Unendlichkeit bestehen und angesichts zahlreicher Herausforderungen Trost schenken.

Zum Weiterlesen
  • Viele Psalmen sprechen von Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde und betonen damit seine Überlegenheit über durch Menschen bestimmte Herrschaften. Lesen Sie im Besonderen die Psalmen 8, 95 und 100, aber auch Psalm 19, der das Staunen über die Schöpfung mit der Wertschätzung für Gottes Wort verbindet.

10. Erinnerung an die Rettung JHWHs durch die Geschichte

Text

Psalm 105: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Erinnern spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. Die Menschen hoffen, dass Gott sich an sie erinnert und in Gerechtigkeit und Erbarmen für sie eintritt. Umgekehrt erinnern sie sich an ihn und bemühen sich, seinem Vorbild gemäß zu leben und zu handeln. Beides ist Voraussetzung für das Überleben des Gottesvolkes. Die Bibel erzählt dazu viele konkrete Beispiele in Israels Geschichte.

Auch in den Psalmen kommen Rettungserzählungen zur Sprache. Erinnerungen an erfahrene Hilfe schenken in aktueller Not Vertrauen. Die Psalmen 105 und 106 enthalten besonders viele solcher Erzählungen und gelten als „Geschichtspsalmen“. Ein paar Anmerkungen zu Psalm 105 möchten Lust machen, in Israels Dank für Gottes Hilfe durch die Zeiten einzustimmen.

Ehe die Betenden auf frühere Ereignisse zurückschauen, fordern sie auf, Gott zu loben und seine Taten überall bekannt zu machen. Ab v 7 beginnen sie ihren Rückblick mit dem Bund, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob geschlossen hat. Die Familiengeschichten in Gen 12-50 enthalten so ziemlich alles, was Familien auch heute noch bewegt und prägt. Dass Gott ganz normale Familien als sein Volk erwählt, ist tröstlich. Ab v 16 geht es vor allem um Josef, den vorletzten Sohn Jakobs. Durch seine Weisheit findet Israel während einer schweren Hungersnot in Ägypten Hilfe.

Ab v 24 wird der Unterdrückung der im Nildelta verbliebenen israelitischen Familien gedacht. Gott befreit sie und übertrifft damit den ägyptischen König an Kraft. Diese Einsicht prägt die Erzählung in Ex 1-15. Ps 105,24-38 bringt die Erfahrung ins Gebet. Die Zeichen und Plagen, die Mose und Aaron in Gottes Namen wirken, werden in Variationen erzählt. Die Absicht bleibt jedoch die gleiche. Sie zeichnen Gott als den wirklich Mächtigen aus. Sehr erstaunlich ist die kurze Notiz vom Auszug Israels aus Ägypten in einem einzigen Vers. In v 38 freut sich Ägypten über diesen Auszug. Israel hat ihnen großen Schrecken eingejagt. Vom Untergang der ägyptischen Streitmacht ist in Ps 105 keine Rede. So verschieden kann die Rettung Israels am Schilfmeer erzählt werden. Beide Geschichten haben als literarische Aufarbeitung wichtiger Erfahrungen ihre Berechtigung.

Ab v 39 folgen Erinnerungen an die vierzigjährige Zeit in der Wüste und die Ankunft im verheißenen Land. Im Rückblick überwiegen die positiven Erfahrungen. Nur diese werden hier genannt.
Besonderes Gewicht hat der letzte Vers 45. Ziel der immer wieder erfolgten Rettung der Israeliten ist, dass sie Gottes Weisungen befolgen. In anderen biblischen Texten werden sie damit zum positiven Beispiel für alle Völker. Die Bibel enthält hervorragende soziale Gebote. Werden diese gelebt, ist Frieden im Land. Werden sie von allen Völkern übernommen, erfüllen sich die Visionen vom großen universalen Frieden (vgl. Jes 2,2-4; Mi 4,2-4).

Zum Weiterdenken
  • Welche Erfahrungen in Ihrem Leben oder dem Leben Ihrer Vorfahren stärkt Ihr Grundvertrauen?
  • Welche Rettungsgeschichten erzählen Sie gerne Ihren Nachkommen?

11. Beispiele aus den Wallfahrtsliedern

Texte
Psalm 126: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017 
Psalm 134: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Die Psalmen 120-134 bilden eine Sammlung von Wallfahrtsliedern. Alle beginnen wörtlich mit „Gesang zum Aufstieg“. Jerusalem ist Ziel der regelmäßigen Wallfahrten. Die Stadt liegt tatsächlich auf etwa 800 Höhenmetern und überragt so viele Gebiete des Landes. Vielmehr aber ist die Rede vom Hinaufsteigen eine theologische Aussage. Jerusalem ist das Zentrum, die Gottesstadt. Zu ihr geht man immer hinauf. In ihr richten sich die Betenden nach oben, in Richtung Himmel aus.

Die kurzen Gebete des Wallfahrtsbüchleins zeigen wie alle Psalmen unterschiedliche Gefühls-und Lebenslagen. Das gemeinsame Gehen in Richtung Heiligtum könnte Grund für rasche positive Veränderungen in diesen Liedern sein.

Psalm 126 zeugt trotz erkennbarer Not von viel Trost. Der HERR hat die Kraft, das Schicksal seines Volkes zu wenden. Das ist wie im Traum, sagen die Betenden zu Beginn und lachen und jubeln. Andere Völker sprechen in v 2 als erste aus, was zur Wende geführt hat: Der HERR hat an seinem Volk gehandelt und damit seine Größe offenbart. Die Betenden bestätigen diese Erkenntnis staunend in v 3 und bringen erneut ihre Freude zum Ausdruck.
Die zweite Strophe ab v 4 zeigt, wie dringend die Pilgerinnen und Pilger immer wieder auf Gottes verändernde Zuwendung angewiesen sind. Nun rufen sie zum HERRN, dass er ihr Geschick wenden möge und verstärken es durch ein Bild ihrer Landschaft. Die Wüste im Süden erfährt im Winter gewaltige Veränderungen. Der Regen sucht seine Wege und schafft neue Formationen im ausgetrockneten Bergland. Starkregen bringt die Wüste sogar zum Blühen. Wie diese veränderte Landschaft fühlen sich die Betenden, wenn Gott ihr Schicksal gewendet hat.
Tal im Negev/Südland
Tal im Negev/Südland
Ein zweites Bild stammt aus der Landwirtschaft. Säen und Ernten zeigen die Wende im Bild des Vergehens und Neuwerdens. V 6 ist im hebräischen Urtext im Singular formuliert. Ein Einzelner geht und weint und kommt mit Jubel zurück. Meist wird darin einer aus dem Volk gesehen. Zuvor war im Lied aber nur vom HERRN im Singular die Rede. Es ist also gut möglich, dass Gott mit dem einen gemeint ist, der in v 6 mit dem Samen weggeht und weint, dann aber jubelnd wiederkommt mit Garben. Das bedeutet, Gott geht mit in jede Art von Bedrängnis und kehrt wieder zurück, er weint mit den Leidenden und jubelt mit den Fröhlichen.
Der letzte Psalm des Wallfahrtsbüchleins, Psalm 134, ist ein kurzes Segensgebet. Die Betenden befinden sich im heiligen Bezirk. Wie jedes antike Heiligtum bestand der Tempelbezirk in Jerusalem aus einem weitläufigen Platz. Etwa in der Mitte stand das eigentliche Heiligtum, die sogenannte Cella, davor der Opferaltar. Während andere Völker in ihren Tempeln Statuen der Gottheiten aufstellten, war die Jerusalemer Cella leer. Im Tempel Salomos soll noch die Bundeslade gestanden sein. Nach der Babylonischen Eroberung 586 v.Chr. blieb diese verschollen. Nur der Hohepriester durfte das Allerheiligste einmal im Jahr, an Jom Kippur betreten.

In Ps 134 sind alle Knechte Gottes – das sind diejenigen, die in seinem Dienst stehen und gemäß seinen Weisungen leben – zum nächtlichen Gebet im heiligen Bezirk versammelt. Sie werden aufgefordert, ihre Hände zu erheben und den HERRN zu preisen. Umgekehrt segnet sie der HERR, der Schöpfer des Himmels und der Erde, also der alles regierende König. Im Hebräischen preist das Volk Gott mit demselben Wort, mit dem der HERR die Menschen segnet. Dieses Detail verdeutlicht die gleichwertig gedachten Bündnispartner Gott und Volk. Sie segnen einander.