Reise durch die Bibel - Etappe 11
Von Jesus zu Christus: das Johannesevangelium

Johannes Hagl

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Wer gerne philosophiert oder in den Sternenhimmel schaut und sich fragt: Wie ist die Welt entstanden? Was war der Anfang? Wer steht dahinter? Ein Schöpfer? Ein göttliches Prinzip? Und wer sich selbst kritisch hinterfragt: Wo sind meine blinden Flecken im Glauben? Worauf will ich mein Leben bauen? Wie gehe ich mit dem Tod um? Der oder die findet im Johannesevangelium eine herausfordernde Lektüre.

1. Einstieg
 
Der Evangelist Johannes
Mit dem Johannesevangelium (JohEv) betreten wir ein anderes Land als das der Synoptiker – von der Sprache her und besonders von manchen bedeutsamen Inhalten, die wir von den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas kennen. Es ist, als ob man einen neuen Reiseführer aufschlägt, ein anderes Land besuchen würde. Da weht ein anderer Geist, da wird so anders erzählt, dass man sich zwischendurch fragt, ob man noch über die gleiche Gestalt Jesu liest.

Wenn wir auf Bibelreise gehen, meinen wir, wir besuchen das eine Land der Bibel, und sehen nicht, dass viele christliche Gemeinden in unterschiedlichen Ländern (Rom – Korinth – Kappadokien) mit unterschiedlichen Situationen (städtisch – ländlich, Reicher – Armer) und verschiedener Herkunft (Jude – römischer Bürger – Sklave) leben. Und wir reden mit unserem historischen Verständnis über weit zurückliegende Glaubensdokumente.

Im JohEv begegnet uns anders als bei den Synoptikern ein abgehobenes Christusbild, das nicht geerdet zu sein scheint. Der Sprach-Stil, die Theologie, die Wortwahl gestalten sich wie eine meditativ-philosophische Lehre. Der johanneische Jesus hält lange Reden mit einer unbekannten Begrifflichkeit, die thematisch in sich kreisend monoton wirken.

Folgende Fragen begleiten uns:
  • Wie bringe ich den Jesus der Synoptiker mit dem Christus des JohEv zusammen?
  • Wie kann ich den Graben zwischen meinem „aufgeklärten“ Denken und den „symbolischen“ Schriften um 100 n. Chr. überbrücken?
  • Wer ist der Schöpfer allen Lebens?
  • „Ewiges Leben“ und die „Wahrheit“ – wie kann ich das heute verstehen?
  • Ist der Tod das unüberwindbare Hindernis für uns Menschen?
  • Haben Frauen auch etwas zu sagen?
Für ein Grundverständnis des JohEv ist ein Blick in seine Entstehung und Theologie wichtig:

Es fehlt der zentrale Begriff „Reich Gottes“, es fehlen die Gleichnisse Jesu und die meisten Wunder, die Endzeitreden und der „Einsetzungsbericht“. Stattdessen geht es um „glauben, erkennen, bleiben in“. Ein theologischer Leit-Begriff ist das „(ewige) Leben“ (36-mal).

Liegt das Wirken Jesu bei den Synoptikern hauptsächlich in Galiläa, verlegt das JohEv ihn nach Jerusalem. Und Jesus wandert öfters hin und her. Drei Paschafeste werden erwähnt, was einen längeren Zeitraum des Wirkens Jesu ergibt.

Wann ist es entstanden und wer hat das Johannesevangelium verfasst? Mit diesem mystischen Christus-Text befinden wir uns schon in der vierten Christen-Generation. Jerusalem ist 70 n. Chr. zerstört worden, und die (jüdischen) christlichen Gemeinden, in den Augen der sich neu sammelnden Juden nur eine Sekte, werden aus der Synagoge ausgeschlossen (Jamnia 90 n. Chr.). Darum gilt die Zeit zwischen 90-100 als Endredaktion, denn der Text spiegelt eine lange Entwicklung wider. Manche Teile sind bedeutend älter (Christushymnus). Die Verse mit Johannes dem Täufer sind spätere Einschübe in den poetischen Text.

Die Verfasser, sprich die Redaktion(1), sind unbekannt. Der Entstehungsort ist schwer zu benennen, aber im Hintergrund steht ein hellenistisches Judentum, eine gebildete Gemeinde, die sich sehr abzukapseln scheint.
 
Der Aufbau des Johannesevangeliums

Mit dem JohEv reisen wir in ein anderes Land. Während wir bei den Synoptikern durch Drei-Flüsse-Tal fahren, schwingen wir uns mit dem JohEv auf eine Hochebene – sprachlich, inhaltlich und von der Gemeindesituation. Vereinfacht gesagt: Drei Seiten eines „geschichtlich“ verkündenden Jesus stehen einem mystisch-erfahrenen verkündeten Christus gegenüber. Die Serpentinen hinauf stehen für den Prolog. Auf der Felsklippe oben ist der Adlerhorst sichtbar.

So beginnt es mit einem Prolog, der das Sein vor der Welt (Präexistenz) des gottgleichen Wortes (Logos) beim Vater beschreibt. In der Offenbarung des Sohnes (Menschwerdung) wird seine Herrlichkeit dargestellt.

Jesu Wirken in der Welt (Joh 2-12) zeigt sich besonders in seinen sieben Zeichen (griechisch Semeia, Wundern) und in seinen Reden und Auseinandersetzungen mit der Welt. Dazu kommen Offenbarungsreden Jesu, Dialoge und Streitgespräche, in denen es oft um seine Legitimation geht, um sein „Gesandtsein“ durch den Vater. Deutlich ist da die johanneische Gemeindesituation(2) zu hören, die sich gegen eine jüdische Mehrheit verteidigt(3). Auffallend wird ein dualistisches Welt- und Feindbild gepflegt. Abkapseln nach außen stärkt die eigene Identität, besonders als Minderheit. So ist die Entstehung des Evangeliums in der Gemeindesituation(4) deutlich von der Zeit Jesu zu unterscheiden.

Die Offenbarung vor den Seinen (Joh 13-17) erfährt ihren Höhepunkt in der Stunde der Verherrlichung. Darauf ist ganze Evangelium ausgerichtet: das Hinübergehen aus dieser Welt zum Vater, was Fußwaschung, Abschiedsreden, sprich Leiden und Sterben umfasst.
 
Überblick Aufbau des Johannes-Evangeliums
Als Stellvertretung für die Zeit seiner Abwesenheit verheißt er „einen anderen Beistand“ (Paraklet), den „Geist der Wahrheit“.
 
Die Offenbarung vor der Welt als Verherrlichung vollzieht sich in der Passion (Joh 18-19). Sie ist inszeniert, beginnend mit der Gerichtsverhandlung vor Pilatus, der Krönung (mit Dornen) und Huldigung (Verspottung) und Jubel des Volkes („Kreuzige ihn“), als Inthronisation des wahren Königs. Die Kreuzigung Jesu ist die Erhöhung: die Heimkehr zum Vater. „Es ist vollbracht.“
 
Die Ostererzählungen (Joh 20) entfalten dann, was der verherrlichte Jesus gelebt und verkündet hat. In der Zeit des Geistes führt die Jüngerschar nun seine Sendung weiter. Dabei gilt: „Wer glaubt, hat das ewige Leben“ (6,47).
 
Joh 21 ist ein später Nachtrag der Redaktion, um wegen der galiläischen Osterüberlieferung den Anschluss an die Synoptiker herzustellen.


3. Wissen und Verstehen
 
3.1. Prolog
 
Text
Johannes 1,1-18: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Der Prolog ist wie eine Ouvertüre gestaltet, die auf das Folgende einstimmen soll. Ein Hymnus, der weit zurückgreift! Setzen Matthäus und Lukas die Kindheitserzählungen voran, so geht es hier um den Anfang allen Beginnens. Die Schöpfung durch das Wort Gottes (Gen 1) ist wirkmächtig. Das JohEv 1 greift auf Gen 1 zurück. Die Erschaffung der Welt durch das Wort am Anfang: „Und Gott sprach …“ heißt nun parallel gesetzt: „Im Anfang war das Wort (logos)“(5).
 
Logos“ (Wort, Gedanke, Begriff) stammt aus der griechischen Philosophie, nimmt aber Bezug zur personifizierten Weisheit im AT, die präexistent dargestellt wird (Spr 3,19; 8,22ff; Weish 7,12; Sir 24,9). Diese Präexistenz des Logos(6) und sein Hinabsteigen zur Welt ist die wichtige Voraussetzung im JohEv, um Jesu Todesstunde als seine Erhöhung und damit verbunden seine Heimkehr zum Vater zu verstehen. Gegen gnostische Vorstellungen(7), Jesus sei nur scheinbar Mensch gewesen, wird seine „Fleischwerdung“ betont (V13)(8).
 
„Er kam in sein Eigentum“ und „das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (griechisch: zeltete) ist die kurzgefasste Kindheitserzählung des JohEv. „Zelten“ erinnert an das Offenbarungszelt: Gott ist gegenwärtig und hat nun Wohnung im menschlichen Fleisch genommen (Inkarnation).
 
Und Er ist von Gott gezeugt(9), nicht erschaffen. Gott ist sein einziger Ursprung, und er ist gottgleich. Als Geschöpf wäre er nur das Werk eines Handwerkers. Der Logos ist also das exklusive Ebenbild Gottes und kann an seiner Stelle auftreten. Eine atemberaubende Theologie, eine Zeitreise in wenigen Zeilen vom Beginn in Gott über den Logos bis zum konkreten Wirken des Jesus von Nazareth.
 
Damit ist die Deutung für die Reise durch das JohEv vorgegeben: Was über den Menschen Jesus erzählt wird, ist die Geschichte vom Logos in Gott(10).

Zum Weiterdenken
  • Was bedeuten mir Worte: Geplapper oder Stärkung? Sprechblase oder Lob?
  • Habe ich jemandem mein Wort gegeben – nur? Oder auch mein Tun?
  • Gott „zeltet“ bei mir zu welchen Zeiten und in welchen Begegnungen?
  • Welches der liturgischen Feste im Jahreskreis gefällt mir am besten? Was sagt das über mich aus?

3.2. „Ich bin das Brot des Lebens.“

Text
Johannes 6,22-59: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Auf meiner Bibelreise kann ich mich fragen: „Jesus ist für mich …?“ Das JohEv dreht es um: Es stellt die Beziehung Jesu zu seinen Jüngern und Jüngerinnen in den „Ich-bin-Worten“ dar. Sieben „Ich-bin-Worte“ finden wir als Wegweiser im Evangelium(11). Sieben ist in der Antike eine heilige Zahl: Vollkommen wird ausgesagt, wer Jesus ist.
 
Auf das Bildwort folgt die Heilzusicherung mit dem Ruf zur Entscheidung. Mit Ursymbolen menschlichen Lebens (Licht, Tür, Weg, Brot) wird verdichtet ausgedrückt, wer Jesus ist und was er uns als Heiland bedeutet.
 
Das „Ich-bin“ greift die Offenbarungsformel JHWH am brennenden Dornbusch (Ex 3,14) auf: „Ich bin der Ich-bin-(da)“. Israel erfährt da den schützenden und befreienden Gott. Das „Ich“ findet sich auch in der personifizierten Weisheit (Spr 8; Sir 24).
 
Kirchenfenster Jesus gebietet dem Sturm
Genauso geschieht es in der Brotrede: „Ich bin das Brot des Lebens“. Sie fahren über den See. Finsternis und Sturm ziehen auf. Die Massen interessiert nur, satt zu werden. Für den tiefen Sinn der Brotaktion sind sie blind. Wer auf der irdischen Ebene bleibt, erkennt nicht, dass Jesus das wahre Brot ist, das sättigt. Gott will nur eines: den Glauben an den Gesandten. Die Menge bleibt skeptisch. Sie fordert ein Wunder.
 
Damals „murrte“ das Volk gegen Mose (Ex 15,24), jetzt gegen Jesus. Kennt man doch seine Herkunft, was keinen himmlischen Ursprung zulässt. Diesen Widerspruch sieht nur der Ungläubige. Für die johanneische Gemeinde gilt der Kernsatz als eine steile Vorlage: „Wer glaubt, hat das ewige Leben.“
 
Das Manna als Nahrungsmittel für den sterblichen Leib steht dem Himmelsbrot als spirituelles Lebensmittel gegenüber. Jesus ist dabei nicht nur einfach das Brot, sondern gibt es auch, indem er „sein Fleisch“ im Kreuzestod für das Leben der Welt gibt.
 
Blut ist der Sitz des Lebens in der Antike. Sein Blut trinken ist für jüdische Ohren ein Grauen, ja eine Todsünde. Damit ist die spirituelle Ebene gemeint: Die Eucharistie wird mit dem heilsamen Tod des Menschensohnes verbunden.
 
Anschließend gibt es einen Kameraschwenk und wir befinden uns überraschend in einer Synagoge. Danach gibt es eine Spaltung unter den Jüngern.
 
Eine andere Eigenart oder Kunstgriff des JohEv sind die johanneischen Missverständnisse. Oft wird ein Wort falsch verstanden, weil die Wörter Doppelbedeutungen haben. Die Frau am Brunnen (Joh 4,7-15) meint das Wasser für den körperlichen Durst. Jesus aber spricht vom Wasser des Lebens, von der Ewigkeit, in der es keinen Durst mehr gibt.
 
Die Außenstehenden sehen oft nur den vordergründigen, normalen Sinn des Wirkens Jesu und verkennen die tiefere, hintergründige theologische Bedeutung – wie Nikodemus (Joh 3,3) bei „Geburt von oben“ oder die Juden (Joh 7,35), die fragen, wohin er gehen werde.
 
Nur die Glaubenden können den tieferen Sinn verstehen (Inklusionstheologie). Damit ist wieder konkret die Situation der sich abgrenzenden johanneischen Gemeinde angesprochen. Diese Sondersprache verstehen nur die Eingeweihten, die Glaubenden. Für die anderen, die draußen sind, ist das alles fremdartig.
 
Die Jüngerschar dagegen ist geprägt vom Unverständnis, was ihren kleinen Glauben zeigt. Der ungläubige Thomas ist dafür ein Beispiel (Joh 20,24-29): Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“

Zum Weiterdenken
  • Wer ist Jesus für mich zurzeit?
  • Welcher Weg liegt vor mir und was nährt mich im Leben? Worauf stehe ich wirklich? Was trägt mich?
  • Mein Glaube ist so tief und weit, bis das nächste unlösbare Problem in meinem Leben auftaucht. Was tue ich dann?

3.3. Blinde und Sehende

Text
Johannes 9,1-41: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Wenn ich schlecht sehe, brauche ich eine Brille. Wenn ich im Leben nicht mehr durchblicke, benötigt es mehr: gute Freunde oder eine Beratung. Verliebte sehen anderes als Trauernde. „Sehen“ und „Sehen“ sind nicht immer das gleiche.
 
Wie ein antiker Heilpraktiker streicht Jesus dem Blinden einen Teig auf die Augen. Jesus wirkt, was er gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt.“ Dazu muss der Blinde aber sich im Teich Schiloach waschen. Der Name bedeutet übersetzt: „Gesandter“. Die Jesus-Gemeinde weiß: Er ist der Gesandte! So können sie sich an Reinigung und Augenöffnen durch die Taufe („Effata-Ritus“) verbunden fühlen.
 
Am Anfang steht die Frage nach der Schuld. Sie ermöglicht wieder die christologische Zielaussage: Jesus als „Licht der Welt“ zu zeigen, der Licht in die Welt der Blinden bringt. Blindsein und Sehenkönnen werden so zum Bild für die Beziehung der Menschen zu Jesus. Sie umschreiben den Unglauben der Umstehenden und den Glauben der Seinen, die dann später Christen genannt werden.
 
Jesus lehnt das damalige Weltbild ab: Gute werden belohnt, böses Tun wird bestraft(12) (Tun-Ergehen-Zusammenhang). Krankheit ist keine Strafe Gottes.
 
Dann wird es spannend wie in einer Gerichtsverhandlung. Eine Gruppe nach der anderen wird als Zeugen befragt. Die Auseinandersetzung steigert sich. Es geht um den Geheilten vordergründig. Letztlich aber dreht sich alles um Jesus, der die ganze Zeit abwesend ist.
 
Zuerst befragen jenen die Nachbarn und andere, dann folgt das Verhör vor den theologisch Gebildeten, weil die Heilung am Sabbat geschah – in mehreren Schritten:
 
Zuerst geht es um die Tatsache und das Wie der Heilung (Eltern befragt), dann beginnt die theologische Überprüfung. Entscheidend ist dabei die Frage nach dem Woher Jesu: Ein Sünder, der das Sabbatgebot nicht hält, kann nicht von Gott sein. Nach der Frage, wie er sehend geworden ist, wird der Gegensatz zwischen Jesus und Mose betont: Die traditionelle Glaubensüberzeugung steht gegen neue Erfahrungen, die der Geheilte verkörpert. Er wird angeklagt und letztlich verstoßen, weil er sich zu Jesus bekennt (V 22 Synagogenausschluss). Das beschreibt den Streitpunkt: Jesus – sie kennen seine irdische Herkunft und sind gleichzeitig blind für seine himmlische Herkunft aus Gott.
 
Diese Einschüchterungsaktion zeigt die Gemeindesituation: Wer sich zu Jesus, dem Christus bekennt, wird ausgeschlossen. Der Blinde wird zum Sehenden durch den Glauben an Jesus.
 
Der Geheilte, der noch unter dem Eindruck des Wunders steht und noch im Irdischen verhaftet bleibt, versteht nicht ganz. Wer ist mit „Menschensohn“ gemeint? Dann nach der Selbstoffenbarung Jesu reagiert er und bekennt seinen Glauben zu Christus. So ist wahre Nachfolge geschildert.
 
Im Angehängten (V 39-41) geht es um die geistige Blindheit. Der Unglaube wird beschrieben als Blindheit, Umherirren in Finsternis, ja lebendig tot sein. Wer den Zweck des Kommens Jesu sehen kann, aber nicht im Glauben bleibt, lebt in Sünde. Hier sind abtrünnige Gemeindemitglieder gemeint. Die vermeintlich Sehenden (Pharisäer, Abtrünnige) sind die wahren Blinden – so das JohEv.

Zum Weiterdenken
  • Wo blicke ich im Leben durch? Was sind meine blinden Flecke?
  • Wie gehe ich mit Schuld um?
  • Sind Erdbeben, Tsunami, Pest oder ein Virus eine Strafe Gottes?
  • „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Habe ich das schon erlebt?

3.4. Auferweckung des Lazarus

Text
Johannes 11,1-19 und 28-48: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Nüchtern betrachtet muss Lazarus zweimal sterben. Diese Sicht zeigt, es geht um etwas anderes als um die Heilung des Freundes Lazarus. Er ist nur ein Anschauungsbild für die Herrlichkeit des Gesandten, der auch den Tod besiegen wird. Das ist ein Vorgriff auf das Ostergeschehen.
 
Ein Kranker, Lazarus, wird über seine Schwestern definiert – auffällig für antikes Denken. Jesus weiß, diese Krankheit führt nicht zum Tode, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Heilungen im JohEv sollen nicht das Wirken des Reiches Gottes auf Erden vergegenwärtigen (Synoptiker), sondern sie sind Zeichen für …, das erzählt die Auferweckung des Lazarus. Alles wirkt etwas von der Redaktion inszeniert.
 
Da liebt Jesus die drei Geschwister, wartet aber noch zwei Tage, bevor er zu ihnen losgeht. Da gib es den Hinweis der Jünger auf die Gefahr in Judäa, aber das Licht geht darüber hinweg. Da wird mit dem Wort „hinlegen“ gespielt, betont aber hier den wirklichen Tod des Lazarus, gesteigert durch die vier Tage, was die Größe des Wunders hervorhebt. Die Anwesenheit „vieler Juden“ ist wichtig für die unterschiedlichen Reaktionen danach: Glaube – Unglaube.
 
Jesus ist geistlich erregt und emotional tief bewegt. Der Vorwurf, Jesus hätte doch den Tod des Freundes verhindern können, verfehlt das größer angepeilte Ziel: Lazarus musste sterben, damit Jeus ihn erwecken konnte. Zugegeben Lazarus wird hier instrumentalisiert, um die Doxa, die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden zu lassen. Das steckt hinter der Rüge an Marta, kann sie als Glaubende doch die Herrlichkeit Gottes sehen. Betrifft aber alle ungläubigen Anwesenden, die nur eine magische Großtat wahrnehmen werden.
 
Der Dank ist eine Verstehenshilfe für die anderen. Nach dem Machtwort gibt es die Trennung zwischen Glaubende und im Glauben Bleibende und denen, die ihn denunzieren werden.
 
Viele Personen sind aus dem Lukasevangelium übernommen. Die gesamte Erzählung steigert die Blindenheilung (Kap. 9). Sie zeigt eine leibliche Auferstehung, die an den zukünftigen Auferstandenen gebunden wird. Und mehr schon auf die Toten in den Gräbern am Jüngsten Tag weist, die die Stimme des Menschensohnes hören werden.

Zum Weiterdenken
  • Tod – welche Erfahrungen im Leben habe ich damit gemacht? Den Todvermeiden oder das Sterben zulassen …?
  • Kann ich annehmen, dass Jesus Christus die Grenze des Todes überschritten hat? Hat diese Botschaft Auswirkungen in meinem Leben?
  • Denke ich an eine Wiederkehr des Lebens (Reinkarnation) oder setze ich auf eine andere Hoffnung? Weiterleben heißt für mich …?
  • Wie glaubwürdig sind für mich die Zeugnisse der Bibel von der Auferstehung Jesu?

3.5. Das Messiasbekenntnis von Marta

Text
Johannes 11,17-27: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Es gibt zweimal ein Messiasbekenntnis im NT. Das in Mt 16,16 von Petrus, das kirchengeschichtlich als Grundlegung gilt. Das Bekenntnis von Marta ist historisch versandet.
 
Da kennen wir Marta vom Lukasevangelium als perfekte Küchenchefin (Lk 10,38-42), die sich über ihre Schwester Maria beschwert, und nun tritt sie im JohEv theologisch gebildet auf.
 
Dieser Einschub betont eine eigenständige denkende Frau, die aktiv auf Jesus zugeht. Marta zeigt ihr Vertrauen, dass Jesus ihrem Bruder geholfen hätte, ja auch jetzt helfen kann. Nach dem Missverstehen der allgemeinen Totenerweckung am Jüngsten Tag(13), bekennt Jesus, sich offenbarend, dass er „die Auferstehung und das Leben“ ist. Nun kommt es zu dem Bekenntnis von Marta an Jesus: „du der Christus bist, der Sohn Gottes“. (Mt 16,16: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes), das so einmalig im NT steht.

Zum Weiterdenken
  • Habe ich in meinem Leben schon mal ausdrücklich ein Messiasbekenntnis abgelegt, sprich meinen Glauben vor anderen bekannt?
  • Welche kleinen Schritte, meinen Glauben als Grund zu sehen, unternahm ich oder habe ich erfahren?
  • Kann ich mir von einer Frau die Bibel auslegen lassen?

3.6. Jesus Christus und Maria von Magdala

Text
Johannes 20,1 und 11-18: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
„Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Frauen waren es, die zu den Männern eilten, die atemlos und verstört die größte aller Nachrichten weitersagten: Er lebt!“(14) Mirjam aus Migdal(15) berichtet als erste von der Auferweckung Jesu. Diese Überlieferung wird durch die ganze Kirchengeschichte getragen, aber schon in der Endredaktion des JohEv eingeschränkt mit V2-10. Die spätere Einfügung setzt Petrus und den Lieblingsjünger als Erstbezeugende ein.
Maria Magdalena verkündet den Jüngern das Evangelium, Albani-Psalter, 12. Jh.
Maria Magdalena verkündet den Jüngern das Evangelium, Albani-Psalter, 12. Jh.
Maria kommt zum Grab. Das setzt eine Grabkammer mit Rollstein voraus. Zwei Himmelsboten, deren weiße Kleidung das himmlische Licht spiegelt, stellen eine komische Frage. Darin liegt aber die Botschaft: Warum trauern? Es gibt keinen Grund dafür? Maria hat einen doppelten Schmerz: Zum Verlust Jesu kommt nun der Verlust des Leichnams. Wieder geht es um ein Erkennen in einer intim gestalteten Begegnung. Zweimal wendet sie sich um: einmal äußerlich und einmal innerlich, was den Prozess des Glaubens beschreibt.

Diese Oster-Erfahrung der Magdalenerin ist eine erzählerische Umsetzung einer geistlichen Annäherung. Es stellt eine geistliche Kommunion dar, das liebende Erkennen (wie bei den Mystikern) des in Christus personifizierten Lebens Gottes. Das Herz hört den Ton: „Mirjam – Rabbuni“. Dieses liebevolle Hinwenden zum Auferstandenen legt wie bei Paulus den Grund für ihre herausragende Funktion in der Kirche: Sie ist eine apostolische Zeugin und erhält später den Ehrentitel „Apostola Apostolorum(16).
 
Gesehen habe ich den Herrn.“ Wie bei Paulus in 1 Kor 9,1 wird das Sehen mit dem Apostelbegriff verbunden, der aber für das frühe Christentum alle Frauen und Männer umfasst. Maria wirkt in der johanneischen Tradition offensichtlich als Apostelin, ist vielleicht der apostolische Grund dieser Gemeinde.
 
Der Bruch in V18 zeigt, dass die Botschaft der Magdalenerin gekürzt wurde. Offensichtlich gab es in der johanneischen Gemeinde nicht nur den Streit mit „den Juden“, sondern auch unterschwellig einen Geschlechterkonflikt. Grundsätzlich gilt: Die johanneische Tradition schreibt die zentrale Rolle als Osterzeugin und Apostelin(17) einer Frau zu. Die Redaktion später spielt ihre Bedeutung herunter (s. Joh 21: Petrus und Lieblingsjünger haben ersten Rang.). Es ist der Beginn einer Entwicklung, die sich besonders gegen Ende das 1. Jh. in den Pastoralbriefen zeigt: Die Frauen werden aus dem kirchlichen Leben zugunsten einer männlichen Ämterstruktur verdrängt.
 
„Noli me tangere.“ Das ist einer der berühmtesten Sätze aus dem JohEv: „Berühre mich nicht.“ Es ist eine theologische Aussage: Der Aufstieg zum Vater fehlt noch. Dann mit der Sendung des Beistandes (Paraklet) ist das Konzept des JohEv komplett. Damit sind wir wieder beim Prolog – am Anfang.

Zum Weiterdenken
  • Frauen verkünden die Botschaft „Er lebt.“ Was löst das in mir aus? Kann ich das annehmen?
  • Welches Bild habe ich von Maria Magdalena: die kunstgeschichtlich dargestellte „Sünderin“ oder die Verkünderin der Frohbotschaft von der Auferweckung Jesu?
  • Wie sehr brauche ich ein altes Raster, um meinen Glauben zu leben und zu erklären?

Inspirationen für weitere Entdeckungen
  • Film „Maria Magdalena“, 2018
    Gelungene Umsetzung trotz überraschen der Gebirgskulisse und einem schwarzen Petrus. Maria versteht die Botschaft Jesu: „Die Welt wird sich nur ändern, wenn wir uns ändern.“
  • Friedrich Hebbel, Maria Magdalena, 1843, Bürgerliches Trauerspiel
  • Luis Rinser, Mirjam, 1983
    Maria Magdalena erinnert sich im Alter an ihre Begegnungen mit Jesus: spannende Johannes-Judas-Mirjam-Gespräche!
  • Dan Brown, Sakrileg, 2004
    Maria Magdalena als Frau Christi dargestellt. Geheimsekte um den Merowinger König; Fantasyroman mit vielen Spekulationen!