Ganz in Weiß Warum Heiraten wieder im Trend liegt

Heiraten ist wieder angesagt, mit allem Drum und Dran. Unser Autor vermutet: Hinter der vermeintlichen Rückkehr zu „klassischen“ Traditionen steckt vor allem die Suche nach Sicherheit angesichts zerbrochener Selbstverständlichkeiten in einer immer komplexeren Welt.
Braut und Bräutigam schauen glücklich hinter Zweigen eines Baums hervor
Romantik am schönsten Tag des Lebens: Paare setzen wieder auf aufwändige Hochzeitsfeiern.
Ganz schön angepasst! Oder müsste man sogar sagen: spießig? Zu diesem Schluss könnten Alt-68er bei der Lektüre von Jugendstudien aus dem letzten Jahrzehnt kommen. Da ist zum Beispiel die Shell-Studie von 2010, die erhoben hat, worauf es jungen Menschen im Leben ankommt. Nach „Gute Freunde, die einen anerkennen“ sind die häufigsten Nennungen „Einen Partner haben, dem man vertrauen kann“ und „Ein gutes Familienleben führen“. Dagegen landen Antwortmöglichkeiten wie „Seine Fantasie und Kreativität entwickeln“, „Von anderen Menschen unabhängig sein“ oder „Das Leben in vollen Zügen genießen“ auf den hinteren Plätzen.

Die gleiche Tendenz zeigen auch die Folgestudien. Und was aus diesen Wünschen wird, wenn aus den Jugendlichen junge Erwachsene geworden sind, bilanzieren die Forscher der SINUS-Studie 2016 in einem Interview: „Der Mainstream wünscht sich die bürgerliche Normalbiografie.“ Will sagen: einen Partner oder eine Partnerin finden, heiraten, in ein Haus oder eine große Wohnung umziehen und Kinder kriegen. Und dann, für die Übriggebliebenen von ’68 noch provozierender: die eigenen Kinder ungefähr oder genauso erziehen, wie man selbst von den eigenen Eltern erzogen wurde! Drei von vier jungen Frauen und Männern sagen das – Tendenz steigend! Was für ein großer Unterschied zur Generation der heutigen Großeltern, die doch gerne und ausdauernd betonen, mit wie viel Mühe sie selbst sich aus veralteten Strukturen und gesellschaftlichen Konventionen befreien mussten.
 
Und die jungen Leute machen ernst: Seit einigen Jahren steigt die Zahl der geschlossenen Ehen wieder an.
 
Alles scheint möglich
Ist das nun eine Rückkehr zu „klassischen“, konservativen Verhaltensmustern? Oder stecken vielleicht ganz andere, neue Motive dahinter? Um das zu beantworten, hilft ein längerer Blick auf zwei andere wichtige Lebensbereiche: die Berufswelt und das gesellschaftliches Leben. Beide werden seit Jahren komplexer und volatiler, Eindeutigkeiten und Selbstverständlichkeiten weichen auf. Neue Berufsbilder entstehen, „alte“ verändern sich grundlegend, und Flexibilität wird zur Kernkompetenz. Alles scheint möglich: Der Polizistensohn wird Fernsehmoderator, knallharte Geschäftsmänner gehen morgens zum Yoga, Beamte kündigen und gründen Start-ups (verkünden jedenfalls die Propagandisten der schönen neuen Arbeitswelt; vor allem im Bildungswesen lässt die Durchlässigkeit tatsächlich noch Wünsche offen).

Vordergründig knüpft diese Entwicklung zwar an die früherer Jahrzehnte an, als die Bildungsoffensive und die höhere Akademisierung Arbeiter- und Angestelltenkinder zu „höheren“ Angestellten und Akademikern beförderte. Auch damals veränderte sich die Berufswelt und wurden Selbstverständlichkeiten aufgebrochen.
 
Der Unterschied ist: Für die damalige Generation galten noch ganz selbstverständlich der „Aufstieg-durch-Bildung“- Glaube und die „Ihr-sollt-es-mal-besser-haben“-Mentalität. Diese seit der Industrialisierung „herrschende“ Erzählung beruhte auf einer sehr klaren logischen Kette: Ein höherer Bildungsabschluss führt zu einem besser dotierten Beruf, führt zu finanzieller Absicherung, führt zu einem gehobenen sozialen Umfeld in der mittleren oder oberen Mittelschicht – mit jeder Generation ein bisschen mehr.

Diese logische Kette ist heute vielfach durchbrochen. Wer als Akademiker in einer Großstadt im Kreativ- oder Bildungsbereich arbeitet, verdient oft weniger als ein Handwerker (mit Perspektive auf den Meisterbrief), ist oft sogar prekär beschäftigt. Je nach Bereich und Region wackeln die logischen Ketten sogar für klassische Besserverdiener-Berufe wie Juristinnen oder Betriebswirte. Dieselben Erosionen zeigen sich im privaten gesellschaftlichen Umfeld. So manche Theologin und mancher Krankenpfleger im Hipsterviertel einer Großstadt führen ein vergleichsweise unstetes Leben, während Friseure oder Schauspielerinnen im ländlichen Bereich Bauernhäuser renovieren und ein möglichst beschauliches Leben anstreben. Alles scheint möglich, solange das WLAN funktioniert und das Auto läuft.
 
Wer die Wahl hat, muss auch entscheiden
Das Aufbrechen dieser logischen Ketten setzt diverse (Wahl-)Möglichkeiten frei – auch in Bezug auf Freundeskreise und Interessen. Neben ihrer einengenden und mitunter exkludierenden Wirkung boten die Ketten aber auch eine Funktion, die Sozialwissenschaftler „Komplexitätsreduktion“ nennen: Wenn der Beruf auch den Wohnort, das soziale Umfeld und das Einkommen relativ weitgehend vordefiniert, sind viel weniger persönliche Entscheidungen notwendig. Und umgekehrt: Wenn die Ketten nicht mehr greifen, müssen die 16- bis 35-Jährigen von heute alle Entscheidungen selbst und ohne gesellschaftliches Gerüst treffen. Das ist aufwendig, komplex und folgenreich. Denn wer Entscheidungen trifft, ist auch für ihre Folgen verantwortlich. Die gewonnene Flexibilität bindet deshalb eine Menge an persönlicher Energie und Ressourcen.
 
Dazu kommt: Viele der als „Generation Y“ betitelten jungen Frauen und Männer stellen die klassische Rolle des Berufs infrage. Besonders die starre Definition, dass „Erfüllung“ im Job sich vornehmlich durch ein steigendes Gehalt und Aufstieg in der Hierarchie einstellt, ist eine weitere logische Kette, die bricht. Nicht ohne Grund weisen aktuelle Stellenausschreibungen so oft auf „spannende und interessante Aufgabenfelder“, „ein offenes und engagiertes Team“ oder „eine gute Arbeitsatmosphäre“ hin. Die Stellenwahl wird so zu einer Gemengelage der Variablen „Gehalt“, „Sicherheit“, „Selbstverwirklichung“, „Spaß an der Arbeit“ und „Zeit für Familie und Freunde“. Weil diese Variablen eben nicht mehr eindeutig zusammenhängen, muss jede und jeder hier ihr oder sein individuelles Gleichgewicht austarieren.
 
Das gilt für jedes Glied der vorher so selbstverständlichen Kette. Auch Wohnort und soziales Umfeld wollen wohlüberlegt und bewusst gewählt sein. Hier ergeben sich jeweils ähnliche Gemengelagen an Variablen und wiederum komplexe Entscheidungsprozesse. Diese Komplexität muss dann an anderer Stelle kompensiert werden. Allerdings lassen sich die meisten Lebensbereiche nur begrenzt eigenmächtig beeinflussen; der Arbeits- und der Wohnungsmarkt zum Beispiel folgen halt eigenen Gesetzen. Umso mehr konzentriert sich der Versuch, das eigene Leben zu gestalten, auf das Private.

Beständigkeit gewinnt an Reiz

Nicht ohne Grund haben sich um Hochzeiten herum in den vergangenen Jahrzehnten viele Selbstverständlichkeiten und vermeintlich althergebrachte Traditionen entwickelt, die gerne unhinterfragt übernommen werden. Er (nicht sie!) macht einen möglichst romantischen und ausgefallenen Heiratsantrag, es gibt geschlechtergebundene Junggesellinnen- und Junggesellenabschiede, geheiratet wird natürlich „in Weiß“, der Brautstrauß wird geworfen … Viele junge Leute sind ehrlich überrascht, wenn sie erfahren, dass ihre eigenen Eltern viele dieser „Traditionen“ nicht gelebt (und ihre Hochzeiten weitaus schlichter und preiswerter gefeiert) haben.
 
Wenn Berufswelt und soziales Umfeld komplexer, unsicherer und volatiler werden, führt das selten zu großer Experimentierfreude im Privaten. In allen Berufen müssen Menschen seit Jahren geografisch, sozial, aber auch geistig mobiler und „verwendungsfähiger“ sein. In diesem Umfeld gewinnen auch konstruierte Beständigkeit und Eindeutigkeiten an Reiz – je stürmischer die See draußen, desto wichtiger, dass im Heimathafen alles bleibt, wie es eigentlich nie war. „Wir beide gegen den Rest der Welt“ ist entsprechend der Grundtenor der meisten Liebeslieder und -filme der letzten Jahre. Paare, die dem ganzen Wahnsinn, der ganzen verrückten Welt dort draußen trotzen und ihr Glück zu zweit realisieren, werden idealisiert.

Das wird auch beim „Nestbau“ sichtbar: Während man bei den eigenen Eltern als Kleinkind noch das Wasser aus ausgespülten Senfgläsern getrunken hat und die Wohnung oder das Haus mit einem Möbelsammelsurium bestückt war, das gerade zur Verfügung stand, legen junge Paare heute vergleichsweise früh Wert darauf, den eigenen Kokon durchzustylen. Das ist je nach Milieu unterschiedlich ausgeprägt, aber die Tendenz umfasst fast alle: Wer sich in den Innenstädten und im Internet auf die Suche nach entsprechenden Läden macht, findet prall gefüllte Deko- und Einrichtungsläden für jeden Geldbeutel und Stil.
 
Gewarnt durch die Scheidung der Eltern
Die beschriebenen Entwicklungen beschränken sich allerdings häufig auf die Paarbeziehung und maximal noch die dazugehörigen Kernfamilien. Freundeskreise und das erweiterte soziale Umfeld werden kaum „geschützt“. Nicht, dass jungen Paaren das egal wäre. Aber die komplexe Welt bietet eben nicht nur große Mobilität, sondern fordert sie auch ein. In der Gemengelage der Berufsentscheidung ist „Zeit für Familie und Freunde“ nur eine von vielen Variablen. Und in Zeiten, in denen das Ein-Verdiener-Modell selten eine Option ist, müssen die Gemengelagen von zwei Personen unter einen Hut gebracht werden.

Was also, wenn es passende Stellenausschreibungen für sie in Köln, Oberbayern und an der Havel gibt, für ihn dagegen in Düsseldorf, dem Emsland und Schleswig-Holstein? Dann können beide nur hoffen, dass die Optionen in Köln und Düsseldorf klappen, damit man immerhin zusammenwohnen kann und nur eine oder einer pendeln muss. Unter diesen Voraussetzungen auch noch darauf zu achten, dass Freunde und Familie(n) in der Rhein-Neckar-Region leben, bringt das Unternehmen „Stellensuche“ schnell an den Rand des Scheiterns. Da braucht es sehr viel Mut und bewussten Verzicht auf Möglichkeiten zu sagen: Wir suchen jetzt beide in Mannheim nach Stellen, die irgendwie passen. Denn gerade über die Variable „Selbstverwirklichung“ bleibt der Beruf subtil, aber wirkmächtig nach wie vor wesentliches Identitätsmerkmal. Und die logische Konsequenz wären eigentlich die Klischee-Großstädter aus den Fernseh-Krimis und -Schmonzetten, die sich von einer offenen Beziehung zur nächsten hangeln. Es gibt sie, aber alle Studien zeigen übereinstimmend, dass sie ein Randphänomen darstellen.
 
Neben der Komplexität der Welt da draußen verbindet die Generation Y noch eine Erfahrung: Sie ist die erste, die zu einem signifikanten Teil (mit-)erlebt hat, was es bedeutet, wenn Eltern sich scheiden lassen. Wie es familiäre Strukturen verändert, Weihnachten und Geburtstage verkompliziert und so letztlich am Nest rüttelt – ein großer Antrieb, das in der eigenen Biografie zu verhindern. Auch deshalb wird auf Sicherheit gespielt: Partner oder Partnerin werden sehr bewusst gewählt und Hochzeiten imposanter zelebriert, als es die eigenen Eltern für möglich gehalten hätten. Die Ehe als Heimathafen in der komplexen Welt soll als Rückzugsort winterfest gemacht werden. Das klappt übrigens auch: Lag die Scheidungsquote in Deutschland 2005 noch bei 52 Prozent, ist sie 2017 bereits auf 37 Prozent gesunken.
 
Dennoch: Was da stattfindet, ist weniger eine idealistische Rückbesinnung und vielmehr erfahrungsbasierter Pragmatismus. Denn die verkrusteten Strukturen, aus denen sich die eigenen Eltern befreit haben, kennt die heutige Generation bestenfalls noch aus Erzählungen. Dagegen muss niemand mehr aufbegehren. Diese Generation kann sich in ihrer Partnerschaft so frei entscheiden wie keine vor ihr. Und ihre Eltern beobachten staunend bis irritiert, wie „die Kinder“ diese Freiheit nutzen, um teilweise genau die Lebensentwürfe zu leben, die man selber doch so spießig fand.
 
David Walbelder arbeitet als Referent für beziehungs- und ehebegleitende Bildung und Pastoral bei der Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung AKF in Bonn.


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