„Manchmal hilft der gesunde Menschenverstand“ Über den herausfordernden Übertritt auf die weiterführende Schule, konkrete Hilfsangebote – und warum Eltern ihre eigene Schulzeit vergessen sollten

Spätestens in der 4. Klasse lernen viele Kinder in Bayern „das ganze Wochenende durch, um den Notendurchschnitt fürs Gymnasium oder die Realschule zu schaffen“, erzählt uns eine Mutter aus München. Wir haben mit ihr über den Übertritt ihres Sohnes auf die weiterführende Schule gesprochen. Auch der Direktor eines Erzbischöflichen Gymnasiums, eine Diplom-Psychologin der Erziehungsberatungsstelle der Caritas und der stellvertretende Leiter des Schülerzentrums Rosenheim äußern sich über schwierige Übergänge, offene Bildungswege – und konkrete Hilfsangebote.  
 
Grundschulkinder rennen auf Lehrerin zu
In der 4. Klasse nimmt der Leistungsdruck in der Grundschule stark zu
„Welche weiterführende Schule ist die richtige?“ Früher als in den meisten anderen Ländern müssen unsere Schülerinnen, Schüler und Eltern diese Frage beantworten. Anfang Mai erhalten die Viertklässler in Bayern ihr Übertrittszeugnis. In den Wochen und Monaten davor ist der Leistungsdruck groß. Kinder, die in Bayern das Gymnasium besuchen wollen (oder sollen?), brauchen in den drei Hauptfächern einen Notendurchschnitt von mindestens 2,33; für die Realschule muss er 2,66 oder besser sein. Wer diese Schnitte nicht erreicht, kann in den folgenden Wochen auf Wunsch der Eltern am Probeunterricht für die weiterführenden Schulen teilnehmen und dort in Deutsch und Mathe eine Prüfung ablegen. Oder das Kind besucht die Mittelschule.
 
„In der 4. Klasse stehen fast jede Woche Proben, Schulaufgaben und Tests an“, berichtet unsere Mutter. Ihr Sohn möchte aufs Gymnasium gehen, allein schon, weil seine ältere Schwester dort ist. „Mein Mann und ich vermitteln ihm immer wieder, dass er dafür etwas tun muss. Das heißt: Hinsetzen und lernen!“ Sie versuchen allerdings, ihn nicht zu sehr unter Druck zu setzen, sondern wollen es mit Anreizen und Motivation schaffen. Funktioniert das? „Nicht immer“, antwortet sie und lacht.
 
Schuldirektor Stefan Antoni der Erzb. Schule in Pullach
Stefan Antoni
Kinder sollten nach der 4. Klasse den Schritt aufs Gymnasium oder die Realschule selbst wollen und nicht von den Eltern zu diesem Schritt gedrängt werden. Das sagt Stefan Antoni, Schulleiter am Erzbischöflichen Pater-Rupert-Mayer-Gymnasium in Pullach, auf das auch die Tochter unserer Mutter geht. „Wenn der Übertritt in der Grundschule nur mit ständigem Lernen oder Nachhilfeunterricht gelingt, ist die Erfolgsprognose für die ersten Jahre am Gymnasium nach meiner Erfahrung deutlich schlechter als bei anderen Kindern.“
 

„Das stellt uns als kirchliche Schule vor Herausforderungen“

 
Der Schuldirektor zeigt aber auch Verständnis für die Eltern und verweist auf die veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft an seiner Schule. Deutlich mehr Kinder eines Jahrgangs als früher wechseln heute aufs Gymnasium. „Das stellt uns vor große Herausforderungen, gerade uns als kirchliche Schule, wenn wir all diesen Kindern gerecht werden wollen. Wir sehen es auch als gesellschaftlichen Auftrag an, dass mehr Kinder als früher Abitur machen sollen.“ Stefan Antoni räumt ein, dass er sich manchmal darüber ärgere, dass in der Öffentlichkeit zu wenig gewürdigt werde, dass sich auch die Schulen angepasst und gewandelt haben. „Neben formalen Kriterien wie dem Lehrplan und den Noten haben unsere Lehrkräfte auch einen pädagogischen Ermessensspielraum, den sie nutzen. Die Schule ist flexibler, als viele meinen.“
 
Zwei Schülerinnen brüten über Hausaufgaben
Viele Kinder tun sich aber schwer mit den an sie gestellten Anforderungen
Stephanie Sander-Ewald unterstützt immer wieder Familien, die sich mit dem Übertritt auf weiterführende Schulen schwertun – die Kinder, aber auch die Eltern. Die Diplom-Psychologin und Familien (DGSF)- und Trauma (PITT)-Therapeutin arbeitet an der Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien der Caritas in Sendling. Ihre Empfehlung für Eltern, die sich Sorgen wegen des Übertritts machen, lautet: Wenden sie sich gern frühzeitig an die zuständige Beratungsstelle!

"Wenn Kinder in der 5. Klasse vermehrt über Bauchweh klagen oder im Verhalten auffällig werden, kann das als Hilferuf verstanden werden. In diesem Fall kann eine Beratungsstelle dabei unterstützen, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Wenden sich die Eltern schon frühzeitig an uns – etwa dann, wenn sie wegen des anstehenden Übertritts verunsichert sind –, können wir bereits in der 3. oder 4. Klasse gemeinsam im Gespräch die Situation des Kindes ausleuchten. Wir können dann gemeinsam die Weichen so stellen, dass für dieses Kind der passende weitere schulische Weg gefunden wird. Grundsätzlich gilt: Je früher, desto besser!“ Stephanie Sander-Ewald betont im Gespräch aber, dass jedes Kind und jede Familie anders seien und einen individuellen Beratungsansatz erfordern.
 

Das Wohl des Kindes immer im Blick behalten

 
Gern bestärkt sie die Eltern darin, sich frühzeitig mit den Lehrkräften auszutauschen – auf Wunsch ist sie bei solchen Gesprächen sogar dabei. „Die Lehrerinnen und Lehrer erleben die Kinder aus einer anderen Perspektive als die Eltern. Es gibt die Zuhause- und die Schul-Welt. In der Schule verhalten sich manche Kinder anders als im gewohnten Familienumfeld daheim. Ich empfehle den Eltern, den Austausch mit den Lehrkräften zu suchen. Diese haben eine andere Perspektive, die oft sehr wertvoll ist.“ Viele Eltern nehmen die Unterstützung durch die Beratung gern an, sind erleichtert und dankbar für die Hilfe. „Am Ende ist aber offen, was sie aus den Beratungsgesprächen für ihren weiteren Weg mitnehmen."
 
Manchmal bietet es sich im Laufe der Gespräche auch an, die Motivation der Eltern beim Thema Übertritt zu beleuchten. „Wir stehen unter Schweigepflicht und können im geschützten Beratungsraum auch solche Hintergründe gemeinsam entdecken.“ Am Ende gehe es aber immer darum, den Blick aufs Kind zu richten und zu überlegen, welcher Weg für das Kind zu diesem Zeitpunkt der Beste sei.
 
Schülerin meldet sich im Schulunterricht
Keine Sackgasse: Jedes Kind kann während seiner Schulkarriere unterschiedliche Bildungswege einschlagen
Spätestens an dieser Stelle sei die Frage erlaubt, warum so viele Kinder in der 4. Klasse überhaupt unter Druck stehen, unbedingt aufs Gymnasium oder die Realschule wechseln zu müssen. Und wer diesen ausübt. Die Eltern? Das bayerische Schulsystem? Die Gesellschaft? Da gehen die Meinungen auseinander. Alle Gesprächspartner verweisen aber auf das auch in Bayern offene Schulsystem und die vielen Möglichkeiten in Zeiten von Fachkräftemangel, boomendem Handwerk und demographischem Wandel, die den Kindern mit jedem Schulabschluss offenstehen. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus schreibt in seiner Broschüre „Der beste Bildungsweg für mein Kind“: „Die Leistungsfähigkeit der Kinder kann sich im Laufe der Schulzeit ändern. Deshalb gibt es für jedes Kind immer wieder die Möglichkeit, seinen Bildungsweg entsprechend anzupassen.“
 

„Kinder sind mehr wert als die Noten des Übertrittszeugnisses“

 
Mehr zum Übertritt erfahren Eltern auch im Rahmen von Infoabenden im Frühjahr, welche die Erzbischöflichen und auch die meisten anderen Schulen anbieten. Sie können sich dort mit den Lehrkräften, aber auch mit den Sozialpädagog:innen und Schulpsycholog:innen austauschen, die an vielen Schulen inzwischen fest etabliert sind. In manchen Einrichtungen können die Kinder auch so genannte Gelenkklassen besuchen: Sie bleiben ein Jahr länger auf der Grundschule, der Übertritt und die damit verbundene Entscheidung finden erst nach der 5. Klasse statt.

Und für diejenigen Kinder, denen auch das zu schnell geht, gibt es im Münchener Stadtteil Neuperlach das ORI (die Städtische Schulartunabhängige Orientierungsstufe), eine Art Gemeinschaftsschule. Hier wird der „Erprobungs- und Beobachtungszeitraum“ sogar um zwei Jahre verlängert. Wichtig sei aber, sagt Stephanie Sander-Ewald, den richtigen Moment für den Schulwechsel zu erwischen, da „jedes Schulsystem eigene Schwerpunkte setzt und Quereinstiege ab einem bestimmten Zeitpunkt schwieriger werden“.
 
Der Stellv. Leiter des Schulzentrums Rosenheim, Christian Eichinger
Christian Eichinger
Christian Eichinger, Fachreferent für Schulpastoral im Erzbistum München und Freising und stellvertretender Leiter des Schüler- und Studenten-Zentrums Rosenheim (SSZ), spricht ein weiteres Problem an. Nicht alle Eltern seien für die Hilfs- und Beratungsangebote empfänglich – nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen. In Rosenheim sei der Anteil der Eltern mit Migrationshintergrund recht hoch – „und diese Eltern sprechen oft nur schlecht Deutsch, kommen nicht zu den Elternabenden und sind auch sonst nur schwer zu erreichen“.

Auch für diese Kinder hat er mit seinem Team am SSZ vor 15 Jahren den Begleitkurs „Übergang 4+“ entwickelt – ein nichtreligiöses Angebot, das im Laufe des 4. Schuljahres in den Grundschulen der Stadt angeboten wird. „Wir wollen zeigen, dass die Kinder mehr wert sind als die Noten des Übertrittszeugnisses.“ Sie sind Prinz und Prinzessin, wohnen in einem Schloss, das ihnen irgendwann zu klein wird.
 
Sie kämpfen beispielsweise gegen Drachen und andere wilde Tiere, die symbolisch für schwere Matheaufgaben oder Streit unter Mitschülern stehen können. Spielerisch und unter seiner Anleitung erarbeiten sich die Kinder die Chancen und Möglichkeiten, die der Übertritt auf die weiterführende Schule bedeuten kann. Sie entdecken ihre Talente, Kompetenzen und Fähigkeiten, die sie für den Übergang stärken. Für Angst und Druck ist kein Platz.

"Kinder nicht nur durchschleusen"

Darüber hinaus versucht Christian Eichinger, auch die Lehrkräfte selbst bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Dafür moderiert er unter anderem eine Schulleiterrunde mit allen Rosenheimer Schulen, die sich dreimal im Jahr trifft. Das Angebot, sich „auf dem kurzen Dienstweg“ und über Schulgrenzen hinweg über Schülerinnen und Schüler, Probleme und mögliche Lösungen auszutauschen oder auch mal etwas auszuprobieren, wird gern angenommen. „Wir haben in Rosenheim gute Erfahrungen mit solchen Treffen gemacht. Denn die Lehrkräfte an den weiterführenden Schulen wollen nicht nur Durchlauferhitzer sein und die Kinder durchschleusen, sondern ihnen den Übergang und den Weg in ein gelingendes Leben so leicht wie möglich machen!“
 
Auf dem Foto ist eine Mutter mit ihrer Tochter vor einem Laptop zu sehen. Sie sitzen im Wohnzimmer und lernen.
Übergänge sind Herausforderungen, bieten aber auch Chancen
„Manchmal hilft auch der gesunde Menschenverstand“, sagt Schuldirektor Stefan Antoni zum Abschluss unseres Gesprächs. „Die Eltern sollten ihr Kind in der Grundschule beobachten und sich ehrlich die Frage stellen, wie es mit den schulischen Anforderungen und Erwartungen zurechtkommt.“ Er betont: „Ich bin Direktor einer kirchlichen Schule. Wir sind keine Leistungssteigerungsfabrik! Wir wollen die Begabten fördern und ihnen etwas anbieten, den Leistungsschwächeren aber nicht signalisieren, dass sie Verlierer sind. Das ist die große Kunst der Schule. Leben und leben lassen!“ Was er den Eltern raten würde? „Am besten vergessen, was sie vor 30 Jahren selbst in der Schule erlebt haben. Denn auch wir an der Schule haben uns verändert. Wir leben im Jahr 2024, haben oft selbst Kinder und sehen genau, was in der Gesellschaft um uns herum vor sich geht.“
 
Gesunder Menschenverstand also. Die Fachkompetenz der Lehrkräfte nutzen. Der Offenheit des Schulsystems vertrauen. Und die Bereitschaft, sich frühzeitig Hilfe zu holen, wenn es nicht anders geht. Dann meistern die Kinder auch diesen Übergang, sagen unsere Experten. Es wird nicht der letzte gewesen sein.
 
Schild auf Schulhof
Haben Sie Vertrauen! In Ihr Kind, in die Lehrkräfte und nicht zuletzt in das Schulsystem.
Autor: Christian Horwedel, Freier Redakteur, März 2024
 

Herausfordernde Übergänge

Der Übertritt von einer Schule zur nächsten ist ein so genannter Übergang, sagt Stephanie Sander-Ewald von der Caritas. So etwas erleben wir als Kind bis ins hohe Erwachsenenalter immer wieder. Übergänge bringen Veränderungen in einem gewohnten System mit sich und sind ein Prozess, der sich in der Regel über einen längeren Zeitraum hinzieht. Ganz wichtig: Übergänge stellen zwar Herausforderungen dar, bieten aber auch Chancen! Ein erfolgreich geschaffter Übergang kann zur Stärkung des Selbstvertrauens und zur Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit, zu mehr Ruhe und Gelassenheit führen („Ich habe es gepackt!“). Manchmal braucht es Hilfe, um einen Übergang gut zu bewältigen. Eine große Herausforderung bestehe darin, so die Therapeutin, wenn mehrere Übergänge zugleich anstehen: Neben dem Schulübertritt wird ein Geschwisterkind geboren, ein Umzug ist geplant etc. Dann gehe es vor allem darum, möglichst viele dieser Bereiche stabil zu halten, um die Chancen zu verbessern, die Herausforderung gut meistern zu können.
 

Das könnte Sie auch interessieren ...

fröhliche Kinder in Klassenzimmer
Vater fröhlich mit Tochter bei den Hausaufgaben

Ressort 5 - Bildung
Kapellenstr. 4
80333 München
Telefon: 089 2137-1368
Fax: 089 2137-271368
Ressort-Bildung(at)eomuc.de
Ressortleiterin, Ordinariatsdirektorin:
Dr. Sandra Krump
Vorsitzende der Diözesankommission für
Katholische Tageseinrichtungen für Kinder
Ehe-, Familien- und Lebensberatung
der Erzdiözese München und Freising
Rückertstraße 9
80336 München
Telefon: 089-54 43 11-0
Fax: 089-54 43 11-26
info(at)eheberatung-oberbayern.de
http://www.erzbistum-muenchen.de/eheberatung-oberbayern
Leiterin: Margret Schlierf