"Wir bieten auch in der Krise Kontinuität und menschliche Nähe" Die Ehe-, Familien- und Lebensberatung des Erzbistums feiert 50-jähriges Bestehen

Die Therapeutin blickt in Paulas gestresste Augen. Die innere Unruhe der Frau, ihr Gehetztsein sind deutlich zu erkennen. Seit Jahren kommt die zweifache Mutter zur Therapie bei der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) der Erzdiözese München und Freising. Zuletzt ging es ihr deutlich besser. Dann kam Corona.   
Frau mit Corona-Maske
Die Corona-Pandemie stellt auch die EFL vor besondere Herausforderungen. Die letzten Monate hat sie intensiv dafür genutzt, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Davon profitieren vor allem die Klienten.
Isabelle Überall, Diplom-Psychotherapeutin, psychologische Psychotherapeutin und Kommunikationstrainerin in der Beratungsstelle in der Rückertstraße, sitzt Paula mit Maske und dem erforderlichen Abstand gegenüber. Alle 30 Minuten lüftet sie den Raum. Dennoch sind beide froh, sich trotz Pandemie persönlich in den Räumen der EFL in der Rückertstraße treffen zu können. Während des Lockdowns im Frühjahr mussten sie den Kontakt aufs Telefon beschränken.

Lose E-Mails kündigten damals „Land unter“ bei der 45-Jährigen an. Ihre Ehe steckt schon seit Jahren in der Krise. Dann kamen beruflicher Stress, das Homeschooling der Kinder und ein Ehemann dazu, der beruflich viel im Ausland unterwegs war und seit Februar zu Hause im Homeoffice arbeitet. Ein Mann, der seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle hat, schnell aus der Haut fährt und sie schon zwei Mal tätlich angegriffen hat, auch vor den Kindern. Anlass für eine Therapie? Sieht er nicht.

Sie dagegen wollte sich Hilfe holen und wandte sich vor Jahren an die EFL. Isabelle Überall freut sich darüber: „Wer sich mit seinen Sorgen an einen Außenstehenden wendet, hat bereits den ersten Schritt aus der Isolation, der Mut- und Perspektivlosigkeit getan. Es ist eine deutliche Entlastung, über seine Ängste und Sorgen zu sprechen, und bewirkt eine innere Distanzierung zu den belastenden Gedanken.“
 

Corona hat viele Probleme verschärft

gemaltes rotes Herz mit Trennungsstrich verbunden mit Sicherheitsnadel
Wie Paula erging es vielen Frauen und Männern: Die Corona-Krise hat viele Probleme verschärft! „Die Beratungsinhalte haben sich in den letzten Monaten stark verändert: Wir stellen bei unseren Paaren und Familien eine deutliche Zunahme an existenziellen Krisen fest, bedingt durch die Eingriffe in nahezu alle Lebensbereiche.

Sie sind herausgefordert, ihre Bedürfnisse auf engem Wohnraum abzustimmen, und es gibt weniger Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen. Spannungen nehmen zu, bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen“, sagt die Therapeutin Anjeli Goldrian, die ebenfalls schon seit vielen Jahren für die EFL arbeitet.

„Drohende Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, von Einbußen bedrohte Branchen – für viele Menschen ist das eine anstrengende Situation. Wir sehen aber auch die andere Seite: Singles und Alleinerziehende, die ihr soziales Netzwerk nicht mehr wie gewohnt nutzen können und denen Einsamkeit und Isolation stark zusetzen. Immer häufiger melden sich sogar Klienten bei uns, die schon lange nicht mehr da waren, und bitten um Hilfe.“ Sie überrascht das nicht: „Das neuartige Virus führt bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Verunsicherung und der Angst vor Kontrollverlust!“
 

„Durch Corona sind wir flexibler geworden“

Jede Krise ist aber auch eine Chance. Die EFL beispielsweise hat sich auf die neue Situation gut eingestellt: „Wir sind flexibler geworden“, sagt Isabelle Überall. „Vor Corona haben wir keine Telefonberatungen angeboten. Heute sind sie eine dankbare Alternative für diejenigen, die nicht persönlich erscheinen können. Bei dringendem Beratungsbedarf telefonieren wir auch mal eine halbe Stunde zwischendurch. Wir bieten auch in dieser Krise Kontinuität und menschliche Nähe! Unsere Klienten wissen, dass sie bei uns ihren Anker und ihren Ort haben, an dem wir für sie da sind.“

Neben der persönlichen und telefonischen Beratung hat die EFL auch Online-Beratungen in ihr Angebot aufgenommen, eine professionelle Videoberatung ist im Aufbau. Seit kurzem besteht die Möglichkeit, nach der „Blended Counseling“-Methode je nach Situation und individuellen Bedürfnissen der Klienten zwischen den unterschiedlichen Beratungsformen zu wechseln und verschiedene Settings anzubieten (persönliches Vor-Ort-Gespräch, am Telefon, per Video).
 

Flexibler, Klienten-freundlicher Umgang mit der Krise

Rettungsring an Steinmauer
Dieser flexible, Klienten-freundliche Umgang mit der Corona-Krise zeigt, warum sich die EFL in den letzten 50 Jahren einen exzellenten Ruf bei den Menschen der Erzdiözese erarbeiten konnte. Kontinuierlich wurde das Angebot ausgebaut, das für die Klienten noch immer kostenlos ist (freiwillige Spenden sind erwünscht).

Im 50. Jahr ihres Bestehens betreibt die EFL 23 Beratungsstellen in München und in den angrenzenden Landkreisen. Rund 6.200 Menschen suchten allein 2019 Rat und psychologischen Beistand, ca. 32.000 Beratungsstunden wurden im letzten Jahr angeboten. Waren es in den 70-ern noch ausschließlich Frauen, die sich an die Einrichtungen wandten, melden sich heute auch immer häufiger Männer an – die Quote beträgt heute 58 Prozent Frauen und 42 Prozent Männer (Stand 2019).

Beratungsschwerpunkte sind die Themen
  • Partnerschaft und Sexualität (50 Prozent),
  • Lebensberatung (18),
  • Trennung und Scheidung (15) und
  • familiäres Zusammenleben (13).   
Die Wartezeit beträgt sechs bis acht Wochen. Bei akuten Krisensituationen wird versucht, innerhalb von 48 Stunden zu reagieren und die dringend notwendige Unterstützung anzubieten.
 

Hohe fachliche Standards bei der Aus- und Weiterbildung

Während die Berater früher überwiegend auf Honorarbasis arbeiteten, sind heute alle fest angestellt. Das Team setzt sich aus Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen – Psychologen, Sozialpädagogen, Theologen -, die zum Teil mehrjährige Zusatzausbildungen sowie spezifische Weiterbildungen für Themen wie Sexualität und Trauma absolviert haben. „Die Aus- und Weiterbildung der EFL erfüllt hohe fachliche Standards und ist immer am Puls der Zeit“, betont Isabelle Überall.

Die rund 90 Beraterinnen und Berater erleben hautnah, wie das schnelllebige, hektische, aber auch bunte und aufreibende Leben seine Spuren bei den Menschen hinterlässt. Die vielfältigen Familienformen (Patchwork, Alleinerziehende, Multikulti), Themen wie berufliche Mobilität, Fern- und Wochenendbeziehungen, virtuelle Partnersuche sowie die stark veränderten Erwartungen an eine erfüllende Partnerschaft führen zu unterschiedlichen Konstellationen, die in der Beratung einen individuellen Ansatz erfordern. Isabelle Überall: „Die damit einhergehende Rollenvielfalt – von der klassischen Versorgungsehe bis zum romantischen Liebesideal – zieht weitere Konflikte nach sich, die eine Beratung immer schwieriger und anspruchsvoller machen.“
 

Ein „Notfallkoffer“ gegen die Härten des Lebens

Frau sitzt vor Bergpanorama, allein
Paula beispielsweise hat sich dafür entschieden, gleich zwei anspruchsvolle Jobs zu bewältigen: Neben der Tätigkeit als Psychotherapeutin hat sie einen Lehrauftrag an der Uni erhalten, der eine große Chance, aber auch eine zusätzliche Belastung für sie bedeutet. Ihre Kinder zieht sie weitgehend allein groß, während sich ihr Mann auf seine Arbeit konzentriert. Um etwas Positives entgegensetzen zu können, hat sie zusammen mit ihrer Therapeutin an einem „Notfallkoffer“ gearbeitet: Was hilft ihr beim Stressabbau? Wo kann sie sich im Alltag kleine Freiheiten schaffen, sich vom Mann abgrenzen, Kraft und Energie auftanken? Aus der Traumatherapie haben sie die Idee übernommen, sich gedanklich eine Art „Schutzmantel“ anzulegen, um gegen alle Widrigkeiten gewappnet zu sein. „Das hilft ihr, und deshalb haben wir es in der Corona-Krise intensiv verstärkt und neu ausgerichtet.“  

Weitere Maßnahmen können sein:

  • Atemübungen,
  • Trigger („Auslöser“) vermeiden,
  • Meditation,
  • Glaube und Gebet,
  • Gesunde Ernährung,
  • Ausreichend Schlaf,
  • Vermeidung von Suchtmitteln,
  • Feste Tagesstruktur.
Im Lauf der Jahre hat Paula gelernt, die Provokationen ihres Mannes zu ignorieren und die sich anbahnenden Konflikte frühzeitig zu deeskalieren. Wenn sie im Auto ihre Kinder von der Schule abholt, gönnt sie sich eine kleine Pause, hört ihre Lieblingsmusik und schöpft neue Kraft. Die Antwort auf die Frage, ob sie mit diesem Mann weiter zusammenleben möchte, hebt sie sich für die Zeit nach der Pandemie auf. Momentan fehlt ihr die Kraft für einen solchen Schritt.
 

Humor und der Glaube helfen auch der Therapeutin

Die Corona-Krise setzt aber auch den Therapeutinnen der EFL zu. Die psychische Belastung ist hoch. Bei der Bewältigung helfen die gute Ausbildung, der Rückhalt im Kollegenkreis – und der Glaube. Das trifft zumindest für Anjeli Goldrian zu: „Das Gebet ist eine zentrale Kraftquelle für mich. Ansonsten verbringe ich abends viel Zeit mit der Familie, probiere neue Rezepte aus und bin viel in der Natur unterwegs.“ Auch der Humor helfe über manche Sorge hinweg, sagt sie: „Der Amaranten-Auflauf war gut gemeint, schmeckt aber nicht – also: weg damit!“ Sie lacht. „Es hilft, solche Dinge nicht zu ernst zu nehmen.“  

Dennoch: Die Advents- und Weihnachtszeit unter Corona-Bedingungen wird hart werden – für alle! Manche werden unter den Einschränkungen, Verboten und Geboten mehr leiden, als sie allein ertragen können, und sich hilfesuchend an die Ehe-, Familien- und Lebensberatung der Erzdiözese wenden. Sie sind dort in guten Händen. Der „Notfallkoffer“ ist gepackt – und das seit 50 Jahren! Der Winter kann kommen.

Text: Christian Horwedel, freier Mitarbeiter, Dezember 2020

Das könnte Sie auch interessieren

Tipps für Weihnachten unter Corona

Glückliche Familie vor Weihnachtsbaum, im Freien

Online-Beratung in jeder Lebenslage

Junge Frauenhände auf einer Tastatur

Ehe-, Familien- und Lebensberatung
der Erzdiözese München und Freising
Rückertstraße 9
80336 München
Telefon: 089-54 43 11-0
Fax: 089-54 43 11-26
info(at)eheberatung-oberbayern.de
http://www.erzbistum-muenchen.de/eheberatung-oberbayern
Leiterin: Margret Schlierf