"Damit setzen wir das Evangelium um" Interview von "PRO - Das christliche Medienmagazin" mit Dieter Müller vom Dachverband „Asyl in der Kirche“

Die Fälle von Kirchenasyl sind stark gestiegen. Trotzdem muss mehr getan werden, findet Br. Dieter Müller SJ, der auch im Dachverband „Asyl in der Kirche“ aktiv ist. Insbesondere, weil es hier um einen Kernauftrag der Kirche gehe.
 
Kinderhand mit Aufschrift Asyl
"Es ist die Kernaufgabe der Kirche, Menschen in Not aktiv zu helfen"
PRO: Im Jahr 2023 gab es laut Statistik vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) deutlich mehr Fälle von Kirchenasyl als in den Vorjahren. Woran könnte das liegen?

Dieter Müller: Wir haben einen absoluten Höchststand. Wir hatten in den Jahren 2017 und 2018 um die 1.500 Fälle. Da wurden die Behörden schon nervös. Jetzt in 2023 waren es knapp über 2.000 Fälle. Ich kann es mir nur so erklären, dass es vielleicht mit der Corona-Pandemie zu tun hat. Dass etliche Gemeinden eine Zwangspause gemacht haben und es auch nicht so viele Anfragen von Flüchtlingen gab. Viele Gemeinden haben diese Zeit vielleicht als Ruhepause genutzt, um dann wieder neu durchzustarten.

Das Thema ist öfter in den Medien aufgetaucht. Dadurch könnte es auch neue Anhänger gefunden haben. Und schließlich liegt es auch an uns selbst, wie intensiv wir neue Gemeinden suchen, die Kirchenasyl gewähren könnten.

PRO: Aus welchen Ländern kommen aktuell die Menschen, die Schutz im Kirchenasyl suchen?

Dieter Müller: Der größte Teil kommt aus Syrien, gefolgt von Afghanistan. Die tatsächlichen Zahlen von Flüchtlingen in Deutschland spiegeln sich nicht unbedingt in den Kirchenasylzahlen wider. Denn wir treffen ja eine Auswahl entsprechend der Herkunftsländer. Das Kriterium ist, einfach gesagt: Er oder sie muss eine Bleibeperspektive in Deutschland haben, sonst hat das Kirchenasyl keinen Sinn. Aus der Türkei kommen zum Beispiel viele Flüchtlinge nach Deutschland. Aber da sehen wir keine großen Chancen, dass die im nationalen Asylverfahren auch Erfolg haben. Ein Kirchenasyl würde dort also nicht viel helfen.

Bei Syrern hingegen sind wir sicher, dass sie ihre Eigenschaft als Flüchtlinge oder den subsidiären Schutzstatus zuerkannt bekommen und bei Afghanen ebenso. Weiterhin gibt es natürlich Ausnahmen und besondere Härtefälle, so dass auch Menschen aus afrikanischen Staaten mal ins Kirchenasyl gehen können. Auch wenn es für diese Menschen erstmal nur ein Zeitgewinn ist, um nicht direkt abgeschoben zu werden. Bei Homosexualität und bestimmten afrikanischen Herkunftsländern gibt es durchaus auch Chancen im Asylverfahren.

PRO: Haben die Situation im Iran und die Unruhen und Proteste dort etwas an der Anzahl der Iraner, die Kirchenasyl suchen, verändert?

Dieter Müller: Ich könnte es mir vorstellen, habe aber nicht die Aufschlüsselung der Zahlen. Hier bei uns im Haus haben wir etwa 20 Kirchenasyle durchgeführt in den letzten anderthalb Jahren, und es waren fast ausschließlich Syrer und einige Afghanen. In anderen Bundesländern kann es anders sein. Zum Beispiel in Berlin, wo es eine größere Gruppe iranischer Flüchtlinge gibt.
 
Dieter Müller SJ vom Dachverband "Asyl in der Kirche"
Dieter Müller
PRO: Was ist ausschlaggebend dafür, dass das Kirchenasylverfahren positiv ausgeht?

Dieter Müller: Die Gemeinde kann eigentlich nicht viel tun für das anstehende Asylverfahren, das ja erst nach dem Kirchenasyl beginnt. Sie kann natürlich die Menschen intensiv integrieren, so machen wir es hier auch. Wir schaffen gute Voraussetzungen für ein Leben in Deutschland, aber nicht im Speziellen für das Asylverfahren. Das ist ja eine persönliche Sache zwischen dem Betroffenen und dem BAMF. Man kann natürlich eine Anhörung vorbereiten, auf die Fragen vorbereiten. Aber letztlich liegt es am Herkunftsland und den Fluchtgründen, ob der Betroffene eine Chance hat.

Wenn derjenige abgelehnt würde und sich aber schon gut integriert hätte, gibt es ja noch andere Wege, in Deutschland bleiben zu können. Zum Beispiel durch einen humanitären Aufenthalt. Da spielt eine Rolle, wie weit der oder die Betroffene integriert ist. In einem guten Kirchenasyl kümmert man sich um die Person, gibt ihr Deutschunterricht, tauscht sich über die Kulturen aus.

PRO: Wir haben in der Vergangenheit darüber berichtet, dass oft Misstrauen bei den Ämtern herrscht gegenüber der „Echtheit“ des Glaubens der Antragsteller. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Dieter Müller: Ich habe nicht so viel mit Iranern zu tun, die das offensichtlich öfter betrifft. Ich kann aber bestätigen, dass das BAMF häufig mit dem Hinweis ablehnt, es gäbe „asyltaktische Gründe für die Konversion“. Dann ist zum Beispiel in Bayern die Hürde, im Klageverfahren zu gewinnen, höher als woanders. Die Verwaltungsgerichte hier sind tendenziell schärfer und härter gegenüber Klagenden und folgen vielleicht eher der Linie des BAMF. In anderen Bundesländern wie Berlin oder Nordrhein-Westfalen gibt es Verwaltungsgerichte, die den Klagenden häufiger Recht geben.

Aber es kommt mir sowieso komisch vor, wie eine Richterin eine Konversion überprüfen soll. Oder ein BAMF-Mitarbeiter. Wie können die feststellen, ob jemand von Herzen konvertiert ist oder ob es nur eine Asyltaktik ist? Das halte ich für sehr fragwürdig. Eigentlich müsste man doch den Pfarrer als Sachverständigen ausführlich befragen, der diese Konversion durchgeführt hat. Da spielt es sicher eine Rolle, ob es sich zum Beispiel um eine Freikirche handelt mit drei oder vier Wochen Vorbereitungszeit auf die Taufe oder ob es eine Amtskirche mit mehreren Monaten Taufvorbereitung ist. Ich würde sagen: Je länger die Taufvorbereitung, desto glaubwürdiger ist auch die Konversion.

PRO: Wie ist die Wahrnehmung von Kirchenasyl in der Gesellschaft und der Politik? Kirchenasyl ist ja kein Recht im juristischen Sinn, sondern eine Vereinbarung zwischen Kirchen und Politik.

Dieter Müller: Die Politik liest die Zahlen des BAMF auch, und ich glaube, das Innenministerium ist nicht froh über Kirchenasyl. Auch wenn eine Vereinbarung gilt, nach der Kirchenasyl toleriert wird, werden immer wieder Hürden aufgebaut. Eine Zeitlang zum Beispiel durch die Anwendung der 18-monatigen Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren, wenn der oder die Betroffene als untergetaucht gilt, was aber beim Kirchenasyl gerade nicht der Fall ist. Das ist seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom Juni 2020 wieder vom Tisch.

Jetzt kommt es öfter zu punktuellen Räumungen und Räumungsandrohungen. Das ist für uns als Kirchenasylgeber eine neue Qualität. Es macht uns Sorgen, dass dort möglicherweise eine Grenze verschoben wird: Wie weit kann ich als Behördenleiter gehen? Es könnte mit den höheren Zahlen zusammen hängen.

PRO: Wie oft kommen diese Räumungsdrohungen vor?

Dieter Müller: Ein halbes Dutzend Mal hat es schon vollzogene oder angedrohte Räumungen gegeben. Bekannt ist der Fall aus Viersen vor einigen Monaten. Dort gab es eine Räumung und anschließend Abschiebehaft für ein irakisches Ehepaar, das nach Polen überstellt werden sollte. Durch öffentlichen und politischen Druck konnte das Paar dann aber wieder Kirchenasyl zurückkehren.

Wir machen uns Gedanken, ob das Testballone sind oder ob eine neue Stufe eingeleitet wird. Unabhängig von der Vereinbarung zwischen Kirchen und BAMF gilt die Rechtsprechung: Kirchenasyle dürfen immer geräumt werden, um eine Ausreisepflicht durchzusetzen. Dass die Behörden sie tolerieren, ist eine rein politische Entscheidung. Zudem geht es aber auch um die strafrechtliche Frage, ob die Person im Kirchenasyl sich illegal in Deutschland aufhält.

Es gibt dazu eine Entscheidung vom Oberlandesgericht München aus dem Jahr 2018: Wenn das Kirchenasyl begonnen hat und das Dossier von der Gemeinde eingereicht wurde und vom BAMF geprüft wird, ist der Aufenthalt nicht illegal. In dem Moment, wo eine Behörde tätig wird und an dem Fall noch arbeitet, ist der Aufenthaltsstatus einer Person nicht illegal.

Sollte das Dossier abgelehnt werden, die Behörde also entscheidet, dass es kein Härtefall ist, und die Person bleibt weiterhin im Kirchenasyl, ändert sich der Status aber in einen illegalen Aufenthalt, sagt das Gericht. Jetzt dürfte geräumt werden. Wir vermuten, dass einige versuchte Räumungen daran anknüpfen.

PRO: Macht Ihnen der zunehmende Einfluss der AfD in der Bevölkerung und einigen Kommunen Sorge im Hinblick auf das Kirchenasyl?

Dieter Müller: Nein, dafür sind die Wahlerfolge zum Glück noch nicht hoch genug. Und es bildet sich dann auch immer eine Gegenbewegung. Extreme Positionen kreieren automatisch Gegenpositionen. Es könnte sogar sein, dass sich noch mehr Aktivisten oder Gemeinden für ein Kirchenasyl entschließen, wenn die AfD noch mehr zulegt.

Wir sehen eher die Gefahr der Gleichgültigkeit, wenn das Thema aus der Öffentlichkeit verschwindet. Es ist sowieso schon ein Randthema. Aber es ist symbolisch sehr stark. Sinnbildlich steht es für eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Und die Kirche drückt damit auch aus, worum es ihr im Glauben geht.
PRO: In den vergangenen Jahren hat sich ja immer wieder einiges geändert an den Regeln für Kirchenasyl. Was gilt aktuell?

Dieter Müller: Es gilt nach wie vor die Vereinbarung von 2015, die 2018 verschärft wurde in dem Sinne, dass die Überstellungsfrist durch den Eintritt ins Kirchenasyl 18 statt sechs Monate beträgt, dann nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wieder entschärft wurde. Ein Kirchenasyl muss ab dem ersten Tag an das BAMF gemeldet werden. Der oder die von der Kirche benannte Dossier-Beauftragte muss in diese Entscheidung schon involviert gewesen sein. Dann kommt ein Schreiben des BAMF an die Kirchenasyl-Geber. Dort ist aufgeführt, dass innerhalb von vier Wochen das Härtefalldossier eingereicht werden muss: Mit Anlagen und Begründungen, Übersetzungen und so weiter. Das ist ein sehr formaler Ablauf.

In 99 Prozent der Fälle wird dieses Dossier abgelehnt. 2023 hat die damalige katholische Beauftragte in Bayern gesagt: Von den 104 eingereichten Fällen wurde das Dossier nur in zwei Fällen positiv beschieden, das heißt Deutschland hat das Asylverfahren übernommen, die Person konnte das Kirchenasyl vorzeitig verlassen In etlichen Fällen bleibt das Dossier aber auch einfach beim BAMF liegen bis zum Ende des Kirchenasyls, vermutlich wegen Überlastung der Behörde.

PRO: Wie erreichen Sie Anfragen für Kirchenasyl?

Dieter Müller: Meistens kommen die Anfragen von Flüchtlingen selbst auf elektronischem Weg. Sie schicken dann gleich Dokumente mit oder starten einen Hilferuf. Man sieht oft, dass das mit Google-Übersetzer geschrieben wurde. Lieber ist es mir, wenn schon ein Unterstützer dahintersteht. Oder noch besser ein Anwalt, der mir den Fall vorbereitet schildern kann. Das könnte der Flüchtling im gewissen Maß zwar auch. Aber ich habe immer Hemmungen, weitere Unterlagen von einem Flüchtling anzufordern, der mich kontaktiert hat, weil ich damit Hoffnungen wecke. Ich möchte keine Hoffnungen wecken, wenn ich gar nicht weiß, ob es klappt.

PRO: Es gibt also deutlich mehr Anfragen für Kirchenasyl, als Sie bewältigen können?

Dieter Müller: Ja! Ich weiß nicht, welches Verhältnis zwischen Anfragen und verfügbaren Plätzen besteht, vielleicht zehn zu eins. Wir haben hier bei uns in Nürnberg eine Familie aus Nordrhein-Westfalen aufgenommen, dort scheinen also auch alle Plätze belegt zu sein. Das Bundesland steht an der Spitze der Kirchenasylgeber. Danach kommt Bayern. Wenn die Menschen in Nordrhein-Westfalen schon Probleme haben, Plätze zu finden, scheint es sehr viele Anfragen zu geben.

PRO: Woran liegt es, dass es so wenige Plätze für Kirchenasyl gibt, obwohl es ja deutschlandweit sehr viele Kirchen und Gemeinden gibt?

Dieter Müller: Zum einen haben viele Kirchen es nicht auf dem Schirm. Da fehlt es an Werbung für das Thema. In Rheinland-Pfalz sind die Zahlen im niedrigen zweistelligen Bereich, in Baden-Württemberg genauso, trotz vieler Kirchen. Es gibt dort aber offenbar zu wenige Vermittler zwischen Flüchtlingen und Gemeinden. Es ist auch ein Unterschied, ob jemand als Mitarbeiter einer kirchlichen Hilfsorganisation oder als offiziell Beauftragter eines Bistums Gemeinden abtelefoniert oder ob das ein Privatmensch macht. In vielen Bundesländern fehlt es an diesen öffentlich-wirksamen Personen.

Bei vielen Kirchengemeinden geht es aber auch rein technisch nicht: Kein Zimmer im Pfarrhaus, nur ein ganz enger Pfarrhof, wo sich kaum jemand über Monate aufhalten kann. Oder aber der Pfarrer hat keine Zeit.

PRO: Wo müsste sich aus Ihrer Sicht etwas ändern?

Dieter Müller: Natürlich bei den Zahlen. Es müssten viel mehr Gemeinden einsteigen. Andererseits sind wir jetzt schon bei einer Zahl, die die Behörden offenbar nervös macht. Ich weiß nicht, ob wir das wirklich ausreizen können. Wenn die Zahl sich verdoppeln würde, würde es politisch sicherlich noch heikler werden. Ich wünsche mir trotzdem ein paar mehr Plätze.

Als Jesuit ist mir außerdem wichtig: Haben wir das theologisch schon genug begründet? Menschendienst ist für mich gleichbedeutend mit Gottesdienst. Theologisch müsste die Kirche mehr in die Offensive gehen und sagen: Es ist nicht nur eine humanitäre Aktion, die wir nebenbei machen. Sondern es ist die Kernaufgabe der Kirche, Menschen in Not aktiv zu helfen. Damit setzen wir das Evangelium um. Was hat Jesus anderes getan? Er hat sich in den Straßen aufgehalten und uns klar gemacht, dass wir unseren Nächsten beistehen sollen. Nächstenliebe ist nichts anderes als konkrete Hilfe für den Nächsten in einer außergewöhnlichen Notlage.
 
Text: Swanhild Brenneke für PRO - Das christliche Medienmagazin, März 2024
 

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Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (Jesuit Refugee Service, JRS) wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge gegründet. Nach dem Selbstverständnis des Ordens gehört die Förderung der Gerechtigkeit notwendig zum Dienst am Glauben. Entsprechend diesem Auftrag begleitet der JRS Flüchtlinge und Migranten, kümmert sich um sie wie um Freunde und tritt für ihre Rechte ein. Weltweit ist der JRS in mehr als 50 Ländern tätig. In Deutschland, Österreich und in der Schweiz setzt er sich seit 1995 für Flüchtlinge und Migranten ein, besonders für Menschen in der Abschiebungshaft, Flüchtlinge im Kirchenasyl, "Geduldete" und Menschen ohne Papiere. Schwerpunkte der Arbeit sind Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.

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